Abgegeben, angenommen

Eric Breitinger hat ein Sachbuch über erwachsene Adoptierte geschrieben. Er ist selbst einer von ihnen.

Eric Breitinger
Eric Breitinger. Foto: privat

Protokolliert von Ulrike Schnellbach

Ich hatte um das Thema immer einen Bogen gemacht. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich gar nicht darüber reden konnte, was es für mich bedeutet, adoptiert zu sein. Mir fehlten die Worte – und das, obwohl ich für mich in Anspruch nehme, dass ich Gefühle gut in Worte fassen kann. Ein Bekannter riet mir, mit anderen zu reden, die ebenfalls adoptiert sind, vielleicht hätten sie ja Worte dafür. So entstand die Idee, ein Portraitbuch über erwachsene Adoptierte zu schreiben.

Früher hatte ich das Gefühl: Ich bin adoptiert und die anderen sind es nicht. Durch die Beschäftigung mit dem Buch hat sich das geändert: Wir sind ja viele, und wir haben einiges gemeinsam. Ich nehme natürlich nicht für mich oder für uns in Anspruch, dass wir einen Alleinvertretungsanspruch auf bestimmte Merkmale haben. Auch andere wissen beispielsweise nach der Schule nicht, was sie machen sollen mit ihrem Leben; auch andere fühlen sich manchmal abgelehnt oder haben Bindungsängste. Trotzdem habe ich Muster erkannt bei uns Adoptierten, die ich mit anderen Menschen seltener teile.

Zum Beispiel die Erfahrung, als Kind von Mutter und Vater weggegeben worden zu sein – das ist dem Selbstwertgefühl oft abträglich. Statt eines Urvertrauens entwickeln viele ein Ur-Misstrauen. Und manche reproduzieren das Muster, sich abgelehnt zu fühlen, immer wieder, zum Beispiel indem sie sich unbeliebt machen. Das kenne ich bei mir in der Form, dass ich sehr leicht zu kränken bin. Viele Adoptierte haben in der Pubertät mehr und länger mit der Ich-Findung zu kämpfen als bei leiblichen Eltern Aufgewachsene. Es fehlt der innere Halt, das Fundament, auf dem sie aufbauen können. Dann gibt es noch das Muster mangelnder Bindungsfähigkeit. Kinder, die nach dem Alter von sechs Monaten oder älter in eine Adoptionsfamilie kommen, tun sich tendenziell schwer, eine Bindung zu den Adoptiveltern aufzubauen und später Bindungen einzugehen. Dieses Problem teile ich glücklicherweise nicht. Ich bin seit über 20 Jahren mit meiner Frau zusammen, und das ist gut so. Wir haben eine 20-jährige Tochter und einen 16-jährigen Sohn, um die ich mich immer gekümmert habe.

„Mama konnte ich nicht zu ihr sagen – ich hatte ja meine Mutti.“

Typisch ist auch ein Fremdheitsgefühl gegenüber der Adoptionsfamilie. Spätestens in der Pubertät stellt man fest: Die anderen Familienmitglieder haben andere Augen, eine andere Nase als ich. Und man beginnt nach den Menschen zu suchen, die vielleicht dieselbe Nase haben wie man selbst. Meist kommen derlei Gefühle und Selbstzweifel in Umbruchphasen auf, in denen man auf der Suche nach sich selbst ist und nicht weiß, wie es mit dem eigenen Leben weitergeht. Dann bedrängt einen die Frage nach der Herkunft, weil sie einem hilft zu klären, wer man eigentlich ist. Die Suche nach den leiblichen Eltern oder leiblichen Geschwistern beginnt meist in einer solchen Brückenphase.

Ich war 24 Jahre alt, als ich meinen Vater zum ersten Mal aufsuchte. Ich wollte wissen, wer er ist, um herauszufinden, wer ich bin, wo ich herkomme. Und natürlich wollte ich wissen, warum er sich nicht um mich gekümmert hatte. Tatsächlich stellte ich fest: Er hat meine Nase! Auch sonst sehen wir uns relativ ähnlich. Er erzählte mir erstmals seine Version meiner Geschichte, die stark von der meiner Mutter abwich. Für ihn war ihre Beziehung eher eine Affäre, für sie etwas Ernstes. Er verließ sie vor meiner Geburt. Nachdem ich geboren war, lebte meine Mutter mit mir in einem Mutter-Kind-Heim, aber nach einer Weile zog sie aus und ließ mich dort zurück. Sie konnte sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht um mich kümmern, aber sie besuchte mich regelmäßig und gab mich nie zur Adoption frei. Auch als das Jugendamt mich mit zweieinhalb Jahren zu meinen Pflegeeltern gab, holte sie mich dort oft ab, ging mit mir Eisessen oder in den Zoo.

Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als sie mich eines Tages, ich war vielleicht sieben, aufforderte, sie „Mama“ zu nennen. Das wollte ich nicht, ich hatte ja meine Mutti. „Mama“ konnte ich nicht zu ihr sagen, ich habe mich Zeit ihres Lebens um eine solche Anrede herumgedrückt. Das ist übrigens auch typisch für Adoptierte: Du bist Kind mehrere Mütter und oft auch Väter, du empfindest ihnen allen gegenüber Loyalität. Daher ist es so wichtig, dass die Adoptiveltern eine offene und positive Haltung gegenüber den leiblichen Eltern einnehmen – sonst zwingen sie ihr Kind zum Verrat. Ob als Kind oder als Erwachsener, irgendwie musst du sehen, wie du innerlich mit deinen mehreren Familien klar kommst.

„Das Buch hat mir geholfen, mir über meine Gefühle klar zu werden.“

Als ich 18 war, habe ich selbst die Adoption durch meine Pflegeeltern beantragt, die ich als meine Familie empfinde. Trotzdem: Ich hadere mit meiner leiblichen Mutter nicht. Sie hat mich geboren und sie hat mich geliebt. Ich empfinde es als großen Vorteil, dass ich weiß, wer und wie meine Mutter war. Daher trete ich heute für offenere Formen der Adoption ein. Die Kinder sollten, wenn möglich, Kontakte zu ihren leiblichen Eltern haben, auch wenn diese für alle nicht immer leicht sind. Im Endeffekt nutzt das den Kindern.

Meinen Vater habe ich jetzt seit Jahren nicht mehr gesehen. Auch das ist nicht untypisch: Es ist gut, die leiblichen Eltern kennen zu lernen, es stärkt das Selbstvertrauen; viele fühlen sich nach dieser Begegnung das erste Mal „ganz“, sie haben endlich ein bisher fehlendes Puzzleteil ihrer Biografie in der Hand. Dennoch bleibt einem die wiedergefundene Mutter oder der Vater oft fremd, man ist nicht mit ihnen aufgewachsen, hat keine gemeinsame Lebensgeschichte. Die verlorene Zeit der Kindheit lässt sich nicht nachholen. Ich kenne keinen Adoptierten, der je zu seiner Ursprungsfamilie zurückgekehrt ist und den Kontakt zu seiner Adoptivfamilie abgebrochen hat.    

Das Buch hat mir geholfen, mir über meine Gefühle klar zu werden, meine Gedanken zu sortieren. Aber ich habe es nicht für mich allein geschrieben, sondern für alle, mit denen ich diese Erfahrung teile, und auch für alle anderen, die mit Adoption zu tun haben. Deshalb macht es mich froh, wenn Betroffene mir schreiben, das Buch hätte sie berührt oder ihnen geholfen, ihre Verhaltensmuster besser zu verstehen. Und natürlich hat es mich gefreut, vor kurzem den deutschen „Kinder- und Jugendhilfepreis“ für das Buch zu erhalten. Den Preis vergeben die Landesjugendämter, Kinder- und Jugendhilfeorganisationen. Ich empfand ihn auch als Anerkennung der Tatsache, dass mit der Adoption nicht alles erledigt ist, sondern dass wir unser Leben lang adoptiert sind.

Eric Breitinger: Vertraute Fremdheit. Adoptierte erzählen
Ch. Links Verlag, Berlin 2012

 

 

Erschienen in Publik-Forum 9/2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

PDF-Version (Drücken Sie die rechte Maustaste und klicken Sie auf "Ziel speichern unter")