Auch ein Bayer in Hamburg ist ein Flüchtling

Die deutsch-kurdische Filmemacherin Gülsel Özkan macht das Flüchtlingsdrama in der Ägäis zum Thema

Von Ulrike Schnellbach

Gülsel Özkan Gülsel Özkan – Foto: Ulrike Schnellbach

Als Kind wollte Gülsel Özkan Anwältin werden. Wegen eines Liedes. Das Lied erzählte von einem Kurden, der in einem politischen Prozess vor Gericht stand. Sie denkt kurz nach, sucht nach den deutschen Worten des Liedtextes. „Es wäre schön, wenn ich schreiben und lesen könnte“, übersetzt sie aus der Erinnerung. „Denis ist im Gerichtssaal, ich würde gerne sein Anwalt sein.“ So ging das Lied, und das kleine kurdische Mädchen Gülsel schloss daraus, dass es in der Türkei keine Anwälte gebe, niemanden, der lesen und schreiben kann. So beschloss sie, später einmal Jura zu studieren und ihre Landsleute vor Gericht zu vertreten.

Gülsel Özkan ist Filmemacherin geworden, aber irgendwie auch eine Anwältin. Ihre Filme erzählen von Menschen, deren Schicksal gerne übersehen wird. Von den Indianern am Amazonas, von den Aleviten in der Türkei, von kurdischen Frauen, die im türkischen Polizeigewahrsam vergewaltigt wurden. „Ich stehe auf der Seite der entrechteten Menschen“, sagt sie, „ich will ihnen eine Stimme geben.“ In ihrem jüngsten Film hat sie sich ein hochaktuelles Thema vorgeknöpft, das Flüchtlingselend an der europäischen Außengrenze.

„Ertrunken vor meinen Augen“ handelt von Menschen aus Somalia, Afghanistan oder dem Libanon, die von Menschenhändlern wie Vieh im Lastwagen in die Türkei gekarrt werden, dort halb erstickt, halb verdurstet ankommen, oft auch tot. Die Überlebenden werden in Schlauchboote verfrachtet und in Richtung der nahen Insel Chios geschickt, wo sie von der griechischen Küstenwache in Empfang genommen werden – nach Möglichkeit noch an Bord, denn dann können sie direkt in türkisches Gewässer zurückgeschleppt werden. „Manchmal werden sie einfach ins Wasser geworfen“, empört sich Gülsel Özkan, „zum Teil sogar mit gefesselten Händen!“

„Menschen wie ich müssen helfen, dass die Integration vorankommt“

Sie sitzt an ihrem Esszimmertisch im nordbadischen Ettlingen, ganz in schwarz gekleidet, passend zu den tiefschwarzen Augen, den dichten Augenbrauen und der schwarzen Löwenmähne. Sie ist ungeschminkt an diesem Morgen, übernächtigt. In vier Tagen soll der Film im WDR erstmals ausgestrahlt werden, und es fehlt noch das Material für eine zweiminütige Szene, das per Post kommen soll. Vor Nervosität hat sie kaum geschlafen, sagt sie, und jetzt wartet sie angespannt auf die Klingel. Aber wenn sie von dem Film erzählt, ist sie ganz bei der Sache, redet ohne Punkt und Komma, sehr melodisch in dem ihr eigenen Akzent, der die Grammatikfehler in den Hintergrund treten lässt.

Im Vordergrund steht die Geschichte des Films, im Vordergrund steht aber auch Gülsel Özkan selbst, sehr selbstbewusst und von ihrer Arbeit überzeugt. „Menschen wie ich“, sagt sie, „die in der Gesellschaft federführend sind und die eine Migrationsgeschichte haben, müssen aus dem Hintergrund in den Vordergrund treten. Wir müssen etwas Positives abliefern, damit die Integration vorankommt.“ Und sie erzählt, wie sie in Griechenland und der Türkei für den Film gedreht hat, „zwölf Tage 14 Stunden am Tag, das war eigentlich workaholic.“

Wenn man ihr so zuhört, könnte man meinen, sie sei dabei gewesen auf einem dieser Schlauchboote voller verängstigter Afrikaner, mitten im stürmischen Meer der Ägäis, wie sich eine Welle vor ihnen auftürmt und eine hinter ihnen, eine böse Strömung, und der Schlepper hat sich abgesetzt, und die Menschen können doch nicht schwimmen.

Familie Özkan ist zwei mal geflohen

Dabei war sie nicht, aber sie hat viel recherchiert gegen große Widerstände der offiziellen griechischen und türkischen Stellen. Sie hat Walid Nasur getroffen, einen Flüchtling aus Somalia, der beim Kentern seines Bootes von der Schiffsschraube der Küstenwache schwer verletzt wurde und nur durch ein Wunder überlebt hat. Sie hat das Entsetzen in den Gesichtern der Anwohner gefilmt, die immer öfter Leichen an ihrem Strand finden. Sie hat den Totengräber auf Chios befragt und einen Mann der Küstenwache, der schon viele dieser armen Gestalten aus dem Wasser gezogen hat. Und sie hat Einheimische gesprochen, die sich mit den Flüchtlingen solidarisieren, weil sie auf Chios alle irgendwie von Flüchtlingen abstammen und diese deshalb, so sagt es eine Journalistin im Film, ein Teil von ihrer Geschichte, ihrer Identität sind. 

Das gilt auch für Gülsel Özkan. 1966 in der kurdischen Stadt Malatya geboren, ist sie als Kind zweimal geflohen. Zuerst, weil ihre Familie alevitischen Glaubens ist – „die älteste Naturreligion der Welt“, sagt sie stolz –, und  Aleviten in der Türkei verfolgt wurden. Damals floh die Familie nach Izmir, Gülsel war zwölf Jahre alt. Zwei Jahre später die nächste Flucht, diesmal weil sie Kurden waren, diesmal nach Hamburg.

„Eigentlich sind wir doch alle Flüchtlinge, wenn wir unseren Geburtsort verlassen“, sagt Gülsel Özkan, „auch der Bayer, der in Hamburg neu anfangen muss.“ Sie fühlt sich nicht benachteiligt, obwohl sie hart kämpfen musste. Sie bezeichnet sich als „Weltbürgerin“ mit einem „Drei-Kulturen-Erbe“, und das ist etwas, auf das sie stolz ist. Gerne zeigt sie sich im Schneidersitz, „ein bisschen türkisch“, wie sie sagt, auf dem orangefarbenen Sofa zwischen den orientalischen Kissen, vor der Glasvitrine mit den Andenken an Dreharbeiten in aller Welt, einer Geldbörse von den Navajo-Indianern, einer Holzmaske aus Guatemala, einer Adlerfeder aus Ecuador.

Endlich das Klingeln der Türglocke

Der Anfang in Deutschland war schwer. Weil sie die Sprache schlecht konnte, prophezeiten ihr die Lehrer, sie würde das Abitur nicht schaffen. Sie war aber schon damals ehrgeizig und selbstbewusst genug, um zu rebellieren und sich durchzusetzen. Sie nahm den Unterricht auf Kassette auf und arbeitete zu Hause nach. So schaffte sie das Abitur und studierte an der Hamburger Hochschule für Gestaltung, später in Berlin. Dort lernte sie den Filmemacher Ludger Pfanz kennen. Seit bald 20 Jahren sind die beiden ein Team und ein Paar, drehen fast alle Filme gemeinsam und kümmern sich abwechselnd um die beiden Töchter Eleonora und Alena, elf und sechs Jahre alt.

Als berufstätige Mutter, als Künstlerin, wie sie sich auch sieht, hat Gülsel Özkan mit Haushalt nicht viel am Hut. „Ich kann Knöpfe annähen, stricken, alles was eine Frau können muss“, sagt sie lachend, „aber ich tue es nicht.“ Kochen würde sie dagegen gern, weil es kreativ ist, „aber mir fehlt für meine Kochkünste die Zeit.“ Während sie an diesem Vormittag den noch unfertigen Film vorführt, bügelt im Nebenzimmer eine Haushaltshilfe die Wäsche. Eine Studentin, ihre „Assistentin“, kümmert sich wahlweise um die Bewirtung der Gäste, ums Telefon, um die Kinder, die aus der Schule kommen, oder auch um die Pressearbeit der „Planet International“, wie die Produktionsfirma Özkan-Pfanz heißt.

Endlich ertönt die Haustürglocke, ein Paket. Gülsel Özkan strahlt, es ist tatsächlich das fehlende Filmmaterial. „Freut euch alle mit mir“, sagt sie erleichtert und reibt sich voller Tatenrang die Hände. Jetzt kann sie den Film fertig produzieren. Für „Monitor“ soll noch eine Kurzfassung entstehen und im Januar ausgestrahlt werden. Und nächstes Jahr will Gülsel Özkan einen Kinofilm drehen über das Flüchtlingsdrama an den europäischen Außengrenzen.      

Erschienen u. a. in der Stuttgarter Zeitung, 10.3.2008

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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