Das Schweigen der Frauen

Viele geflüchtete Frauen kommen traumatisiert nach Deutschland. Sicher fühlen sie sich auch hier nicht. Sich mitzuteilen fällt vielen schwer.

Samira* (29) ist eine kontaktfreudige Syrerin, die gerne lacht. Sie kam mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einem Neffen im Herbst 2015 nach Deutschland, als die Balkan-Route noch offen war. Ungarn war schlimm, sagt sie, dort seien sie eine Woche lang inhaftiert gewesen. Schlimmer noch war es da, wo Samira herkommt. Um das zu beschreiben, reicht ein einziges Wort: Aleppo.

Auch in Deutschland ist das Leben für Flüchtlinge kein Zuckerschlecken, aber Samira knüpft Kontakte, sucht sich Hilfe, ergreift ihre Chancen. Inzwischen spricht sie so gut deutsch, dass sie sich prima verständigen kann und sogar Sprachmemos an ihre deutschen Bekannten verschickt. Ihr Mann hat eine Arbeit bei einer Tankstelle gefunden, die Kinder besuchen Schule und Kindergarten. Seit kurzem bewohnt die Familie drei Zimmer in einem neu errichteten Flüchtlingswohnheim, Gemeinschaftsbad und -küche auf dem Gang. Zuvor hatten sie ein Jahr lang zu sechst in einem einzigen Zimmer gelebt.

Alles gut bei Samira? Neulich konnte sie plötzlich den Arm nicht mehr bewegen, hatte Schmerzen, Lähmungserscheinungen. Fünf Tage Krankenhaus, aber kein organischer Befund. Sie brauche eine Psychotherapie, mahnten die Ärzte, Samira hat das verstanden. Über mögliche Gründe spricht sie nicht. Und Zeit hat sie dafür auch nicht. Die Kinder, der Sprachkurs. Die Symptome sind abgeklungen, da packt sie lieber wieder an. Das Leben im neuen Land braucht ihre ganze Kraft.

Jede zehnte geflüchtete Frau denkt an Selbstmord

Wie geht es geflüchteten Frauen in Deutschland? Das hat unlängst die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, von der Psychiatrischen Uniklinik der Berliner Charité untersuchen lassen. Die repräsentative Befragung von knapp 650 Frauen in Flüchtlingsheimen ergab deutliche Defizite vor allem bei der medizinischen und psychologischen Versorgung. 36 Prozent der Frauen sagten, sie erhielten keine Hilfe bei körperlichen Beschwerden. Weniger als zehn Prozent hatten auf Nachfrage psychologische Betreuung erhalten. Dabei wäre diese bitter nötig: 40 Prozent berichteten von  starker Traurigkeit, etwa jede zehnte Frau von Selbstmordgedanken. Fast die Hälfte gab an, zuhause oder auf der Flucht dem Tod nahe gewesen zu sein.

Großen Kummer bereitet Frauen vor allem die Trennung von Angehörigen, besonders von Kindern. Viele Familien werden in Kriegen oder während der Flucht auseinandergerissen. Samira hatte vergleichsweise Glück, sie musste nur ihre Eltern in Syrien zurücklassen. Manchmal zeigt sie auf ihrem Handy Fotos von Verwandten in Syrien. Fröhliche Gesichter aus besseren Zeiten. Einige von ihnen leben nicht mehr. Die Eltern des zwölfjährigen Neffen, der mit nach Deutschland kam, sind in der Türkei hängen geblieben. Fraglich, wann der Junge sie wiedersehen wird. Die Bundesregierung hat das Recht auf Familiennachzug 2016 drastisch eingeschränkt.

Nela* (25) aus Somalia hat es noch härter getroffen. So hart, dass sie ihre Geschichte nicht erzählen kann. Mit gesenktem Blick hört sie zu, wie ihr Mann berichtet. Sie versteht nicht viel, da sie noch kaum Deutsch spricht. Wuschelt gedankenverloren dem Säugling durchs Haar, den sie auf ihrem Schoß wiegt.

Geflohen ohne die Kinder – und keine Ahnung, was mit ihnen geworden ist

Im Alter von neun Jahren, erzählt Nelas Mann, sei sie an einen alten Mann verheiratet worden. Drei Kinder habe sie ihm geboren. Dann starb er und sie sei von seiner Familie bedroht worden. Es muss so schlimm gewesen sein, dass die junge Mutter zum letzten Mittel griff: Sie verließ mit ihrem neuen Mann das Land – ohne ihre Kinder. Der Mann ergänzt, er selbst habe aus politischen Gründen fliehen müssen.

Drei Jahre seien sie unterwegs gewesen, ein Jahr in Libyen im Gefängnis. Er zeigt die Narben, die er von Misshandlungen dort davongetragen habe. Nela hebt den Blick und zeigt auf einen Besen in der Ecke des Raumes: Mit so etwas sei sie geschlagen worden. Dann schaut sie schnell wieder nach unten. Sie will auch gar nicht klagen, der kleine Sohn ist gesund, sie sind in Sicherheit. Doch wer weiß, wie lange. Asyl haben sie bisher nicht. Und keine Ahnung, was mit den Kindern in Somalia ist.

Nela und Samira – zwei, die manches von ihren Erlebnissen preisgeben. Anderes behalten Frauen wie sie für sich, wissen Psychologen. Angst, Scham, kulturelle Prägungen hindern sie daran, von Gewalterfahrungen zu erzählen. Auch die Projektleiterin der Charité-Studie, Meryam Schouler-Ocak, sagt, es sei schwierig gewesen, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen. Zudem fehlte es bei den Befragungen häufig an Dolmetscherinnen – ein Riesenproblem auch für Ärzte und Psychotherapeutinnen, die Migranten behandeln.

Gewalt während der Flucht, neue Gewalt in deutschen Wohnheimen

Frauen (und Kinder) sind in Krisenregionen besonders verwundbar. Zur allgemeinen Bedrohung kommt die Gefahr, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, berichtet Heide Serra von Amica. Die Freiburger Hilfsorganisation initiierte im Bosnien-Krieg Anlaufstellen für traumatisierte Frauen und ist mittlerweile auch in Nordafrika und dem Nahen Osten aktiv. „Sexualisierte Gewalt ist oftmals Teil der Kriegsstrategie“, sagt Serra: Massen-Vergewaltigungen würden als Machtdemonstration eingesetzt, die Angst davor vertreibe ganze Bevölkerungsgruppen. Und während der Flucht erleiden viele Frauen weitere sexuelle Übergriffe.

Umso dramatischer, dass sie sich auch in deutschen Unterkünften nicht sicher fühlen: Viele berichten von Diskriminierung bis hin zu sexuellen Übergriffen in den Heimen. Dass Gewalt dort häufig vorkommt, ist kein Geheimnis. Samira erzählt von einem Mann auf ihrem Stockwerk, der täglich seine schwangere Frau und die beiden kleinen Kinder schlage und sie mehrfach mit einem Messer bedroht habe. Ständig komme die Polizei, doch das ändere nichts. Samira hat Angst.

Neben Bedrohungssituationen ist laut Charité-Studie die fehlende Privatsphäre ein großes Problem. Nela wohnt mit ihrem Mann und dem Säugling in einem Containerbau, zu dritt auf zehn Quadratmetern. Alleine traut sie sich nicht in die Gemeinschaftsküche. Sie wünscht sich sehnlichst eine kleine Wohnung. Wenn Samira auf die Toilette muss, horcht sie zuerst, ob niemand sonst dort ist. Sie kann nicht in der Kabine neben einem fremden Mann sitzen. Ihre elfjährige Tochter lässt sie nicht alleine zur Dusche gehen aus Angst, ihr könnte dort aufgelauert werden.

Die dramatischen Folgen des Schweigens

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) hat jüngst eine weitere Studie vorgestellt, in der speziell die Situation geflohener Kinder in Deutschland untersucht wurde. Oft müssten sie viel zu lange in Sammelunterkünften ausharren, kritisierte Unicef. Dort seien sie häufig Gewalt ausgesetzt, kämen nicht zur Ruhe und würden zu wenig gefördert.

Es gibt viel zu tun für geflohene Frauen und Kinder in Deutschland. Und es gibt gute Ansätze.  Integrationsministerin Özoğuz verwendet einen großen Teil ihres Budgets für Hilfsprojekte zugunsten geflüchteter Frauen. In den Heimen kümmern sich Sozialarbeiter der Kommunen oder freien Träger um das Nötigste. Und Tausende helfen ehrenamtlich, darunter viele Ärzte. So hielten beispielsweise ab Herbst 2015 in zahlreichen Städten die Refudocs in den Notunterkünften Sprechstunden ab und impften die Kinder. Bis heute vermitteln sie Kranke zusammen mit Dolmetschern an niedergelassene Kollegen. In Medinetzen organisierte Ärzte behandeln unentgeltlich Flüchtlinge ohne gesicherten Aufenthalt, die sich sonst oft gar nicht in eine Praxis trauen würden.

Ausreichend ist das alles freilich nicht. Die Autorinnen der Berliner Studie fordern eindringlich mehr Therapieangebote: „Wir empfehlen das Recht auf umfassende Gesundheitsversorgung, insbesondere im Hinblick auf psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Versorgung“, heißt es im Abschlussbericht. Das sei vor allem für die besonders verwundbare Gruppe der geflüchteten Frauen essentiell.

Die Konsequenzen fehlender Betreuung können weitreichend sein, wie eine Psychologin von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge der Süddeutschen Zeitung erklärte: Denn Frauen, die ihre Erlebnisse keinem Therapeuten anvertrauen können, hätten auch Schwierigkeiten, im Asylverfahren davon zu erzählen. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass der Asylantrag zu Unrecht abgelehnt wird.  

*Namen geändert

Erschienen in Frau und Mutter 6/2017

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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