Die pervertierte Solidarität

Flüchtlinge werden in Griechenland wie Tiere eingepfercht, eine Chance auf Asyl haben sie kaum. Nun hilft die Europäische Union – bei der Abwehr der Schutzsuchenden

Von Ulrike Schnellbach

Solidarität ist eine wunderbare Idee. Doch wie sie in der europäischen Flüchtlingspolitik umgesetzt wird, erinnert an Begriffsverdrehungen à la George Orwells „Neusprech“ in dem Roman „1984“: Es ist ungefähr das Gegenteil dessen gemeint, was das Wort ursprünglich sagt.

Es geht um die Situation in Griechenland, das eines der Haupteinfallstore für Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Mittleren Osten ist. Neun von zehn illegalen Einwanderern in die Europäische Union stranden derzeit in Griechenland. Damit ist das kleine, überschuldete Land komplett überfordert, sein rudimentäres Asylsystem ist zusammengebrochen. Die wenigen Unterkünfte sind gnadenlos überfüllt, es herrschen unmenschliche Zustände. Die Haftanstalten bersten mit Asylbewerbern: Pro Asyl berichtete nach einer Recherchereise im November 2010 von Zellen, in denen die Insassen so zusammengepfercht sind, dass sie nicht einmal einen Platz zum Sitzen haben. Diejenigen Flüchtlinge, die nicht inhaftiert sind, leben in Elend auf der Straße und sind zunehmend rassistischen Übergriffen ausgesetzt.

Sie haben kaum eine Chance auf Asyl, weil die Behörden nur wenige Anträge täglich entgegennehmen und die Anerkennungsquote bei gerade mal einem halben Prozent liegt. Griechenland ist mehr mit der Abwehr der Schutzsuchenden beschäftigt als damit, ihnen Hilfe zu gewähren. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Grenzpatrouillen seeuntüchtige Flüchtlingsboote aufs offene Meer zurücktreiben und Menschen, die über Land kommen, nachts über den Grenzfluss Evros in die Türkei zurückschicken – ohne Rücksicht auf Verluste.

„Griechenland braucht Hilfe, und Griechenland bekommt Hilfe“, konstatierte Bundesinnenminister  Thomas de Maizière (CDU) Ende Oktober vor dem Bundesverfassungsgericht. Das verhandelt zurzeit darüber, ob Deutschland Flüchtlinge angesichts der dokumentierten Menschenrechtsverletzungen noch nach Griechenland zurückschicken darf.

Tatsächlich bekommt Griechenland seit Anfang November tatkräftige Hilfe. Aber nicht bei der Aufnahme und menschenwürdigen Behandlung der Flüchtlinge, sondern bei der Abwehr: Mehrere EU-Staaten, darunter Deutschland, stellen im Rahmen der Grenzschutzagentur Frontex Soldaten, Wärmebildkameras und Fahrzeuge für die Grenzsicherung zur Verfügung. So hat es schon im Mittelmeer funktioniert, die meisten Flüchtlinge abzuwimmeln. So wird nun auch noch das letzte Schlupfloch in der EU-Ostgrenze abgedichtet.

Solidarität, die den Namen verdient, sieht anders aus: Erstens braucht Europa endlich ein einheitliches Asylsystem mit einer gerechten Verteilung der schutzsuchenden Menschen – unter Berücksichtung der Frage, wo bereits Angehörige leben. Das hatte übrigens auch Deutschland vehement eingefordert, als es in den 1990-er Jahren Hauptzielland für Asylbewerber war. Doch dann schafften sich die wohlhabenden Staaten im Inneren der EU das Problem mit der Dublin II-Verordnung vom Hals: Danach ist jeweils dasjenige Land für das Asylverfahren zuständig, in dem die Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten – also die Länder an den Süd- und Osträndern der Union.

Zweitens, und vor allem, brauchen die Flüchtlinge unsere Solidarität. Sie fliehen vor dem Krieg in Afghanistan, vor Terror im Irak, vor Hungersnöten in Eritrea, Rechtlosigkeit in Somalia oder Verfolgung in Darfur. Über diese Katastrophen berichten europäische Medien tagtäglich. Von Solidarität mit den Leidtragenden ist schon lange keine Rede mehr.

Erschienen in Publik-Forum 23/2010

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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