Ein Ehrgefühl des Andersseins

Martina N. hat 60 Kilo abgenommen. Das Ergebnis sieht sie durchaus zwiespältig

Protokoll von Ulrike Schnellbach

Flyer - Körpergeschichten
Flyer zum Film „Körpergeschichten. Vier Frauen – vier Wege“

Figur, Gewicht: Das ist für mich ein Lebensthema. Und ich habe den Eindruck, dass ich darüber etwas zu sagen habe. Wer sich da alles berechtigt fühlt eine Meinung zu haben und sie zu sagen, das ist unglaublich. Ich wünsche mir, dass Menschen nicht be- oder verurteilt werden aufgrund einer Äußerlichkeit, mit der sie niemandem schaden. Deshalb habe ich mich entschieden, bei dem Film* mitzumachen. Ich will den Leuten sagen, dass die Gleichung nicht aufgeht: Dick gleich unglücklich, dünn gleich glücklich. Bin ich jetzt, wo ich abgenommen habe, glücklicher als früher? Nein. Ich fühle mich nicht einmal attraktiver. Wie attraktiv man ist, hat für mich wenig mit dem Gewicht zu tun.

Ich habe mich nicht unwohl gefühlt als dicke Frau. Ich habe früh so etwas wie ein Ehrgefühl des Andersseins entwickelt. Vielleicht weil es mir gar nicht möglich war, so zu sein wie alle anderen. Ich habe als Kind schon sehr schlecht gesehen, da rennt man nicht herum wie die anderen. Und mit elf Jahren wurden mir Anabolika verschrieben gegen niedrigen Blutdruck – was einen veritablen Stimmbruch auslöste. Spätestens da war klar: Ich brauche gar nicht erst versuchen, in der Masse mitzuschwimmen. Darüber kann man unglücklich sein oder man sagt sich: Das ist auch gut so. Die Zuschreibungen für Dicke haben auf mich nicht gepasst: phlegmatisch, willenlos, unkontrolliert. Ich war immer lebensfroh, temperamentvoll, zackig. Als ich noch Altenpflegerin war, nannten sie mich „Schwester Kugelblitz“, das traf’s genau.

Ich will ja an keiner Miss-Bikini-Wahl teilnehmen

Meine Fülle empfand ich immer als Schutz, wie eine Verpackung um etwas Zerbrechliches. Darin hatte ich Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in meiner Kindheit eingelagert. Als ich abnahm, kamen die alle wieder hoch. Diese Erfahrungen – ich möchte nicht weiter darüber sprechen – waren der Auslöser dafür, dass ich mit vier Jahren gewaltig auseinander ging und seither stark übergewichtig war. Für mich war das in Ordnung so, aber für meine Umwelt war meine Figur immer Thema. Viele Menschen haben aggressiv reagiert. Andere haben gut gemeinte Ratschläge gegeben, ob ich nicht mal abnehmen möchte. Das gab mir das Gefühl, dass ich nie richtig war so wie ich war.   

Schließlich musste ich abnehmen, wollte ich nicht mein Leben aufs Spiel setzen. Meine Hausärztin hatte bei einer Routineuntersuchung Diabetes festgestellt. Ich brauchte ein paar Tage um mich zu entscheiden: Will ich so bleiben wie ich bin, auf die Gefahr hin, dass mich das umbringt? Dann fasste ich den Entschluss, dass es das nicht wert ist, ich wollte leben. Von da an war das Abnehmen wie ein Selbstläufer. Durch die Diabetes muss ich strikt darauf achten, nicht zu viele  Kohlehydrate zu mir zu nehmen. Fast alles andere darf ich essen, Käse, Wurst, auch Sahnesaucen und Cremesuppen, aber natürlich sehr viel weniger Süßigkeiten als früher. Ich koche und backe nach wie vor sehr gerne, ich bin ein Genussmensch. Ich habe ein Bauchgefühl entwickelt, das mich davon abhält, das zu wollen, was mir nicht guttut.

So habe ich in anderthalb Jahren 60 Kilo verloren, das war gar nicht schwer. Und als es mir zuviel wurde mit dem Abnehmen, da hörte mein Körper wie von selbst auf damit. Das Gewicht halte ich seither ohne große Anstrengung. Zuerst dachte ich, ich müsste meine Haut am Bauch straffen lassen, aber es ging dann zum Glück auch so. Ich will ja an keiner Miss-Bikini-Wahl teilnehmen.

Es hat Jahre gedauert, bis ich mir nicht mehr fremd war

Das Ergebnis ist für mich sehr zwiespältig. Natürlich ist es angenehm, dass ich gelenkiger bin und meine Knie nicht mehr so wehtun. Ich laufe jetzt viel, eine rasante Form des Spazierengehens. Aber ich habe Bewegung oder Schlanksein nie vermisst – ich kannte es ja nicht. Sport treibe ich auch heute nicht, nur 20 Minuten Gymnastik morgens, das habe ich vorher schon gemacht. Neu ist der wöchentliche Qi-Gong-Unterricht.

Die Schwierigkeit war, nach dem Gewichtsverlust wieder das Gefühl zu bekommen: Das bin ich. Es hat Jahre gedauert, bis ich mir nicht mehr fremd war. Wenn ich zufällig in einem Schaufenster mein Spiegelbild sah, habe ich mich nicht erkannt. Lange Zeit habe ich um Hindernisse einen zu großen Bogen gemacht, bis ich verinnerlicht hatte, dass meine Ausmaße das nicht mehr erforderlich machen.

Ich habe eine Dünnhäutigkeit entwickelt, die ich an mir nicht kannte, und ich friere mehr. Früher habe ich mich sehr viel geschützter gefühlt und sicherer. Heute ist es von weither erkennbar, wenn es mir nicht gut geht. Dann wünsche ich mir manchmal meine Kilos zurück, als Schutzhülle, in der man mich nicht sieht. Ich arbeite bis heute daran, mir einen anderen Schutzmechanismus zuzulegen.

*Martina N. (53) ist eine der Protagonistinnen in dem Film „Körpergeschichten. Vier Frauen – vier Wege“ der Freiburger Filmemacherin Katharina Gruber. Informationen unter www.lebenskuenstlerinnen.de

 

Erschienen u. a. in der Badischen Zeitung, 7. November 2011

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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