Gefährliche Allianzen

Wie demokratiegefährdend kann Esoterik werden? Eine Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung nimmt die Szene unter die Lupe

Fachtagun Esoterik und Demokratie am 5. und 6. September 2022 in Fulda

Von Ulrike Schnellbach

Bis vor sieben Jahren war die Ärztin Natalie Grams-Nobmann überzeugte Homöopathin, „zu hundert Prozent“, wie sie betont. Wie bei vielen Menschen war es auch bei ihr eine persönliche Erfahrung, die sie zur Alternativmedizin geführt hatte: Als junge Frau litt sie unter den Folgen eines Unfalls und griff, als konventionelle medizinische Behandlungen nicht zu helfen schienen, zu Globuli. Sie war baff, wie schnell es ihr besser ging, erzählt sie. Dass es auch daran gelegen haben könnte, dass sie zeitgleich eine kurze Psychotherapie machte, fiel ihr erst später auf. Jedenfalls beschloss die Medizinstudentin, sich in Homöopathie und traditioneller chinesischer Medizin weiterzubilden. Von 2009 bis 2015 praktizierte sie ausschließlich nach diesen Fachrichtungen.

„Wir brauchen keine Alternative zu wirksamer Medizin“

Heute gehört Grams-Nobmann zu den bekanntesten Kritiker*innen der Homöopathie. Wie es dazu kam, ist eine interessante Geschichte: 2012 wurde die Alternativmedizinerin von den Journalisten Christian Weymayr und Nicole Heißmann interviewt. Als deren Buch unter dem Titel „Die Homöopathie-Lüge“ erschien, war Grams-Nobmann empört – und beschloss, als Replik „Die Homöopathie-Wahrheit“ zu schreiben. Für die Recherche versuchte sie, den Nutzen der Globuli nach wissenschaftlichen Standards zu belegen. Und stellte fest, dass das nicht möglich war. „Die Wirkung geht nicht über den Placebo-Effekt hinaus“, ist sie heute überzeugt und sagt: „Wir brauchen keine Alternative zu wirksamer Medizin.“ So wurde aus ihrer geplanten Verteidigungsschrift eine kritische Auseinandersetzung mit der Homöopathie („Homöopathie neu gedacht – was Patienten wirklich hilft“, 2015). Konsequent wie sie war, schloss Grams-Nobmann ihre Praxis. Seither arbeitet sie im öffentlichen Gesundheitswesen, beriet in den letzten Jahren vor allem zur Corona-Impfung.

Nicht nur die Homöopathie und weitere komplementärmedizinische Verfahren werden derzeit verstärkt skeptisch beäugt. Auch andere esoterische Angebote und einige ihrer Verfechter sind in die Kritik geraten. Auf der einen Seite gibt es offenbar eine starke Nachfrage: Der Esoterik-Markt boomt, nicht nur im Netz wimmelt es von „Kraftsteinen“, Wahrsagerei, Schamanismus-Workshops und unterschiedlichsten Angeboten zur Selbstoptimierung – ein Milliardengeschäft. Je krisenhafter die Umwelt, so scheint es, desto stärker der Rückzug in die Innenwelt, die Hinwendung zu selbsternannten Gurus oder Wohlfühl-Influencerinnen, zu gefühlten Lösungen komplexer Probleme. Ja und, könnte man sagen, ist doch Privatsache. Doch was auf den ersten Blick wie harmlose Spinnerei erscheint, hat – und nun sind wir bei der anderen Seite – zum Teil hochproblematische gesellschaftliche Auswirkungen.

Fachtagung Esoterik und Demokratie
Fachtagung "Esoterik und Demokratie" am 5. und 6. September 2022 in Fulda.
(© bpb, Laurin Schmid/Bundesfoto)

Querverbindungen mit Reichsbürgern und Rechtsextremen

Spätestens seit den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sind Querverbindungen zwischen Esoterikerinnen, Anthroposophen, Heilpraktikerinnen, Reichsbürgern und Rechtsextremen deutlich geworden, die für die Demokratie gefährlich werden können. Einige Beispiele: Der Molekularbiologe Christoph Hueck, Mitbegründer der anthroposophischen Akanthos-Akademie, behauptete auf einer „Querdenken“-Demonstration in Stuttgart im Mai 2020, einem gesunden Immunsystem könne das Coronavirus nichts anhaben, und polterte: „Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt“. An Freiburger Waldorfschulen tauchten in der Folgezeit massenhaft gefälschte Maskenatteste auf, Eltern klagten über die Umgehung von Schutzmaßnahmen durch Lehrer und andere Eltern. Als im August 2020 Reichsbürger und Rechtsradikale auf die Reichstagstreppe vordrangen, war eine Heilpraktikerin eine der Haupt-Agitatorinnen. Auch auf „Querdenken“-Demos in Baden-Württemberg waren Heilpraktiker, Esoterikerinnen und Anthroposophen auffällig stark vertreten, wie eine Studie der Universität Basel 2021 bestätigte. Auch wenn sich manche öffentlich von Rechtsextremen distanzierten, finden viele offenbar nichts dabei, Seite an Seite mit ihnen zu marschieren. Wie ist das möglich? Was macht Rechtsextremismus anschlussfähig an die Esoterik?

Diesen Fragen ging unlängst die Bundeszentale für politische Bildung (BpB) nach. Bei einem hochkarätig besetzten Kongress in Fulda nahm sie das „Spannungsverhältnis Esoterik und Demokratie“ unter die Lupe. Interessant war dabei zunächst die Frage, was genau Esoterik eigentlich ist. „Esoterik gibt es gar nicht“ („There is no such a thing as esotericism“), überraschte der renommierte Amsterdamer Esoterik-Forscher Wouter J. Hanegraaff das Publikum. Unter dem Begriff werde vielmehr ein Sammelsurium an Ansätzen subsummiert, die von der aufgeklärten westlichen Kultur als unwissenschaftlich abgelehnt würden („rejected knowlegde“). Es ist also schwer zu fassen, das Phänomen Esoterik, und es geht auch nicht darum, es insgesamt zu verteufeln, so BpB-Präsident Thomas Krüger. Aber die Gesellschaft und auch die politische Bildung müsse genauer hinschauen als bisher.

Esoterik als Diesseitsreligion

Die Esslinger Professorin für Soziale Arbeit Claudia Barth tut das seit den 1990er-Jahren. In ihren Studien mit Menschen, die sich selbst als esoterisch bezeichnen, hat sie einige gemeinsame Glaubenssätze gefunden. Demzufolge gehen Esoteriker*innen von der Existenz einer allumfassenden Kraft im Universum aus, die ihre Gesetze in jedes kleinste Teil und in jeden Menschen übertrage, beispielsweise durch (wissenschaftlich nicht nachweisbare) „feinstoffliche Prozesse“. Sie glauben an eine beseelte Natur, die per se immer gut ist. Sie setzen auf Imagination und innere Einkehr, um kosmische Gesetze zu erkennen – mit anderen Worten: Ob eine Theorie richtig ist, muss man nicht nachprüfen, sondern fühlt man. Und sie glauben an Reinkarnation, streben nach Verwandlung in ein höheres spirituelles Wesen, in das eigene „höhere Selbst“.

Für die Forscherin ist Esoterik eine „Diesseitsreligion“ mit Entlastungswirkung: Sie bietet Erklärungen für alles, was geschieht, so dass komplexe und unangenehme Ereignisse einen personalisierten Sinn erhalten, nach dem Motto: Alles, was einem Menschen passiert, ist für ihn das Richtige, weil es seiner Seele dient, sich zu verbessern. Zu Ende gedacht lässt sich so sogar die Shoah als etwas erklären, was den Opfern geholfen habe – ein extrem zynisches antisemitisches Narrativ, das jenes noch toppt, nach dem die Jüdinnen und Juden an ihrer Vernichtung selbst schuld gewesen seien.

Mit der entlastenden Wirkung lässt sich Psychologen zufolge auch erklären, warum esoterische Angebote gerade in Krisenzeiten boomen. Gleichzeitig sind derlei deterministische Vorstellungen einer aktiven demokratischen Gesellschaft abträglich: Wer glaubt, dass alles so sein soll, wie es ist, setzt sich nicht für die notwendigen Veränderungen ein. Er oder sie ist für die demokratische Gestaltung von Politik im weniger alarmierenden Szenario verloren; im schlimmsten Fall bekämpft er die demokratische Ordnung aktiv.

In wenigen Klicks von der Lifestyle-Influencerin zum QAnon-Apologeten

Auf diese Gefahr verweist etwa der Politologe Jan Rathje vom Berliner Center für Monitoring, Analyse und Strategie, das sich mit der Erforschung von Verschwörungsideologien einen Namen gemacht hat. Denn von esoterischen Überzeugungen ist es oft nur ein kurzer Weg zu Verschwörungsglauben, wie Rathje anhand zahlreicher Beispiele nachzeichnen kann. Eines davon zeigte er auf der Fuldaer Tagung: Sam, eine sanft anmutende Lifestyle-Influencerin auf Instagram, interviewt einen gewissen Daniel, den sie als einen „freien Geist“ vorstellt. Dieser Daniel wiederum macht auf einem rechten Youtube-Kanal vor der Kulisse der Reichsflagge gemeinsame Sache mit Hans-Joachim Müller, einem Apologeten der rechtsextremen QAnon-Bewegung. So sind es im Netz nur wenige Klicks von harmlos scheinenden Esoterik-Angeboten über problematische Verschwörungsnarrative zu harter rechtsextremer Propaganda.

Selbstverständlich sind nicht alle Esoteriker*innen rechts, viele verorten sich im grün-alternativen Milieu oder sind unpolitisch. Aber es gibt Schnittmengen mit der extremen Rechten, sagt auch Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (sein Buch „Rechte Esoterik“ erschien 2021). Er nennt neben Verschwörungsglauben etwa ein generelles Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, Schwarz-Weiß-Denken, Ablehnung der Moderne und der Wissenschaft, Freund-Feind-Schemata, Antisemitismus und auch Putinismus. Für Pöhlmann sind Esoterik und Verschwörungsglaube ein „Zwillingspaar“, die Vernetzung beider Szenen habe bereits lange vor Corona begonnen. In der „Flucht in irrationale Gegen-Welten“ sieht Pöhlmann den „Einstieg in den Ausstieg“ aus dem demokratischen System.

Genauso formuliert es die Ärztin Natalie Grams-Nobmann für ihren Bereich: „Die Homöopathie ist oft der Einstieg zum Ausstieg aus dem kritischen, rationalen Denken und sollte nicht als harmlos angesehen werden.“ Für einen rationalen Umgang mit der Corona-Epidemie warb sie bis vor kurzem auch über ihren Twitter-Kanal. Den hat sie allerdings im August geschlossen. Sie begründet diesen Schritt mit dem Selbstmord der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr Ende Juli nach massiven Drohungen von Impfgegnern. Wie Kellermayr und andere Ärzt*innen, die sich für die Corona-Impfung einsetzen, kann auch Natalie Grams-Nobmann von Hass und Hetze ein Lied singen. Sie hat den Schluss gezogen, dass ein sinnvoller Diskurs in den „sozialen Medien“ nicht mehr möglich sei, setzt ihre Arbeit aber auf anderen Wegen fort. Nicht alle sind so mutig. Mancher Journalist, der über die extreme Rechte berichtet, wirft das Handtuch, auch Kommunalpolitiker*innen geben immer öfter dem Druck nach, wollen sich nicht länger beschimpfen und bedrohen lassen. Dass derlei die Demokratie gefährdet, liegt auf der Hand.

Dr. Natalie Grams-Nobmann
Dr. Natalie Grams-Nobmann war im Vertiefungsangebot zu Esoterik und Medizin via Zoom zugeschaltet.
(© bpb, Laurin Schmid/Bundesfoto)

Kein Pardon bei Hass und Hetze

Zurück zur Esoterik. Offensichtlich gibt es bei vielen Menschen einen Wunsch nach Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen, sei es in der Medizin, dem Bildungswesen oder der Politik. Der niederländische Esoterik-Forscher Hanegraaff erklärt das mit den Unzulänglichkeiten des seit den 1980er-Jahren vorherrschenden Neoliberalismus. Dieser befriedige viele menschliche Bedürfnisse nicht, etwa das nach sozialer Gerechtigkeit, und habe die liberale Demokratie in die Krise geführt. Die Esslinger Expertin Barth sieht die Ursachen in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem „entfremdeten Leben in der Moderne“, das viele ihrer Interviewpartner*innen beklagten. Auch der Berliner Politologe Rathje fordert, nicht nur die Esoterik, sondern auch die gesamte gesellschaftliche Verfasstheit kritisch zu beleuchten, nach der der Mensch stets zu funktionieren und dabei möglichst auch noch glücklich zu sein habe.

Es braucht also Alternativen jenseits zweifelhafter esoterischer Angebote. Warum beispielsweise müssen Patienten eine anthroposophische Ärztin oder einen Heilpraktiker aufsuchen für ein ausführliches Gespräch über ihre Leiden? Warum wird die sprechende Medizin bei Allgemeinmedizinern so schlecht honoriert? Warum müssen Eltern, die von Zensuren und Sitzenbleiben wenig halten und sich eine starke musische Förderung ihrer Kinder wünschen, diese auf Waldorfschulen schicken? Warum finden sich solche Angebote viel zu selten in staatlichen Schulen? Nicht nur Staat und Gesellschaft müssen sich solchen Fragen stellen, wollen sie nicht einen Teil der Bürgerinnen und Bürger auf Dauer verloren geben. „Auch die Kirchen müssen sich überlegen, welche Antworten sie haben“, mahnte der Theologe Matthias Pöhlmann bei der Fuldaer Tagung. Denn während die großen Kirchen kontinuierlich Mitglieder verlieren, gehe die Sinnsuche ja weiter.

Wo herkömmliche Strukturen versagen oder enttäuschen, tut sich ein Einfallstor auf für problematische, demokratieferne Ideologien, besonders in Krisenzeiten. Wachsamkeit ist dort geboten, wo Esoterik Scheinlösungen anbietet und echte Lösungen verhindert. Wo sie nach rechts abdriftet, Hass und Hetze befördert, Gewalt legitimiert, da müssen Staat und Gesellschaft entschieden einschreiten.

 

Erschienen in Kontext:Wochenzeitung am 14.9.2022 und in Publik-Forum 19/2022

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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