Victor Orbán, die Flüchtlinge und die europäische Heuchelei

Ungarn interniert Schutzsuchende an der Grenze. Das widerspricht europäischen Grundrechten – entspricht aber weitgehend europäischer Realpolitik

Abscheu und Empörung machen sich immer gut gegenüber Rechtspopulisten. Das mögen sich manche Europapolitiker gedacht haben, als sie die jüngste Ankündigung des ungarischen Ministerpräsidenten kritisierten, Flüchtlinge in Internierungslagern einzusperren. Das entspreche nicht den europäischen Grundrechten, stellte etwa der liberale EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff fest – wie wahr. Andere hielten sich mit Protestnoten eher bedeckt. Es ist ihnen wahrscheinlich allzu bewusst, dass sich nicht nur Ungarn herzlich wenig um die viel beschworenen „europäischen Werte“ schert. Im Gegenteil: Was der Rechtspopulist Victor Orbán praktiziert, kommt dem recht nahe, wie auch andere europäische Regierungen mit Geflüchteten umspringen. Die Zustände in Lagern von Serbien über Rumänien bis nach Italien sind alles andere als menschenwürdig. In Bulgarien sind in diesem Winter Flüchtlinge erfroren. Auch auf den griechischen Inseln werden die Gestrandeten in unbeheizten, überfüllten Zeltlagern festgehalten – man kann auch sagen: interniert. Und zwar im Auftrag der Europäischen Union.

In Deutschland haben wir zwar seit Herbst 2015 sehr viel unternommen, um Hunderttausende Flüchtlinge menschengerecht aufzunehmen und unterzubringen; das steht nicht in Abrede. Sie in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu integrieren wird eine weitere Mammutaufgabe. Gleichzeitig wurde jedoch die Asylpolitik in den vergangenen anderthalb Jahren Schritt für Schritt restriktiver. Auch wenn die rechtspopulistische, in Teilen rechtsextreme AfD noch nicht im Bundestag sitzt: Die politische Agenda bestimmt sie schon sehr effektiv, indem sie kontinuierlich gegen Fremde hetzt, die Stimmung vergiftet und die demokratischen Kräfte vor sich her treibt.

Nichts ist gut in Syrien – und auch nicht in Afghanistan

So wurde 2016 der für die Integration so wichtige Familiennachzug eingeschränkt. Neue Schnellverfahren sollen ermöglichen, dass bestimmte Gruppen von Asylsuchenden schneller abgeschoben werden können. Viele Flüchtlinge müssen länger in Erstaufnahmelagern ausharren, die so genannte Residenzpflicht ist wieder verschärft worden. Das alles zeigt: Es geht auch der deutschen Regierung vor allem darum, die Zahlen zu senken – beinahe um jeden Preis.
Beispiel Syrien. Der fragwürdige Deal mit der Türkei hält uns die Bürgerkriegsflüchtlinge seit 2016 weitgehend vom Leib, während sie in ihrer Heimat weiter unsäglich leiden. Gerade hat das UN-Kinderhilfswerk wieder auf die verheerende Situation in Syrien hingewiesen: Das Leiden der Kinder habe ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht, heißt es in einem aktuellen Unicef-Bericht. Über 650 Kinder seien im vergangenen Jahr getötet worden, 20 Prozent mehr als 2015. Hunderte würden zum Kriegsdienst gezwungen, als Gefangenenaufseher oder Selbstmordattentäter missbraucht. Und was macht Europa? Augen zu und durch.

Gutes Gewissen durch Wegschauen

Beispiel Afghanistan. Margot Käßmanns Aussage „Nichts ist gut in Afghanistan“ aus dem Jahr 2010 hat an Aktualität nichts eingebüßt. Terroranschläge sind an der Tagesordnung. Doch Deutschland schiebt munter Menschen an den Hindukusch ab, häufig nach nicht nachvollziehbaren Kriterien.

Um auch hungernde Afrikaner aus Europa fernzuhalten, denken Politiker verschiedener Couleur immer lauter über Auffanglager in Nordafrika nach. Was wäre das anderes als Internierung Schutzsuchender – so wie es Ungarn vormacht? Der Unterschied ist nur, dass damit die Probleme nach außerhalb Europas verlagert werden. Was in der Türkei, Tunesien oder Libyen geschieht, belastet nicht das europäische Gewissen durch kritische Berichte und elende Bilder in den Nachrichten. Solange andere Staaten – mit unserer finanziellen Unterstützung – die Abschottung erledigen, lassen sich „europäische Werte“ in Sonntagsreden wohlfeil predigen.

Heuchelei hat Hochkonjunktur

Da ist Victor Orbán immerhin ehrlicher. Er tut gar nicht erst so, als würde Humanität sein Handeln bestimmen. Polen, Tschechien und die Slowakei hat er offen auf seiner Seite: Die vier torpedieren als Visegrad-Gruppe seit langem jede gesamteuropäische Flüchtlingsstrategie – außer derjenigen, schlicht gar keine Schutzsuchenden mehr aufzunehmen. Andere vertreten das nicht so laut, dürften aber klammheimlich zustimmen.

Das Prinzip kennen wir von der Schließung der Balkan-Route im vergangenen Jahr. Offiziell steht Angela Merkel für Mitmenschlichkeit und lehnt eine grundgesetzwidrige „Obergrenze“ für Flüchtlinge bis heute ab. Gleichzeitig verhandelte sie den Deal mit der Türkei und ließ Staaten wie Ungarn und Mazedonien gewähren, die das Durchkommen für Geflüchtete unmöglich machten. Die in der Folge drastisch sinkenden Flüchtlingszahlen hat man auch hierzulande mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Wo die Menschen abbleiben, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, schert uns nicht mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Heuchelei hat in der europäischen Migrationspolitik Hochkonjunktur, bis hin zur EU-Außenbeauftragten. Federica Mogherini schämte sich beim EU-Gipfel in Malta Anfang Februar nicht, an die Adresse der USA zu sagen: „Wir glauben nicht an Mauern.“ An Mauern „glauben“ wir vielleicht nicht, Frau Mogherini. Dafür bauen wir Zäune, zum Beispiel entlang der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, an der bulgarisch-türkischen Grenze oder um Ungarn. Und planen Internierungslager. Ist ja auch billiger.

 

Erschienen auf Publik-Forum.de, 13.3.2017

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin
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