Die Gute-Laune-Familie

Die Zilskes kommen ihrem Ziel immer näher: ein möglichst selbstständiges Leben für Marie und Lily

Von Ulrike Schnellbach

Familie Zilske "Das Besondere an uns ist, dass wir uns auf die Weihnachtsgeschenke freuen", sagt Lily. Von links nach rechts: Helmut, Marie, Martina und Lily Zilske – Foto: Ulrike Schnellbach

Martina und Marie Zilske üben Blockflöte, es steht ein Auftritt in der Kirche bevor. Mutter und Tochter spielen zweistimmig „Ihr Kinderlein kommet“, und das passt nicht nur, weil am Adventskranz auf dem Esstisch vier Kerzen brennen. Mit etwas Sinn für Symbolik kann man das Lied auch als Lebensmotto der Zilskes sehen, bezogen auf Marie und Lily, ihre Töchter, die beide das Down-Syndrom haben.

Die meisten Paare würden viel darum geben, kein behindertes Kind zu bekommen. Neun von zehn Kindern mit Down-Syndrom werden abgetrieben. Marie und Lily wurden kurz nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben, das war in den Jahren 1998 und 2000. Bei Martina und Helmut Zilske waren sie willkommen. Das Paar konnte keine eigenen Kinder bekommen und hatte im Adoptionsantrag angekreuzt, dass es auch behinderte Kinder annehmen würde. So kamen kurz nacheinander Marie und Lily in die Familie und bestimmten fortan den Lebensrhythmus.

Beim Flöten gibt vorerst noch die Mutter den Takt vor: „Du musst diesen Ton vier Schläge halten“, mahnt sie, „sonst nimmst du mir an der Stelle immer ein paar Noten weg.“ Ohne zu murren probiert Marie das Lied noch einmal und auch ein drittes Mal. „Mama und ich lieben Musik“, gibt sie munter Auskunft. „Meine Schwester spielt Schlagzeug.“ A propos: „Wo ist Lily eigentlich?“ Marie ruft ihre Schwester, aber die mag im Moment nicht kommen. „Das ist doch unhöflich“, stellt Marie fest. Martina Zilske setzt sich im Schneidersitz in den Sessel und antwortet: „Und, haben wir Lily freundlich gebeten zu kommen, ja? Sie wird schon sehen, was das nächste Mal passiert, wenn sie mich um etwas bittet.“

„Kinder mit besonderem Förderbedarf“ – für Marie ei alltäglicher Ausdruck

„Mama ist streng mit uns“, kommentiert Marie, und Martina Zilske widerspricht nicht. Überhaupt kommentiert sie nicht, was ihre Tochter sagt. Marie ist schließlich schon ein Teenager, und dass sie das Down-Syndrom hat, ist für Martina Zilske kein Grund sie zu bevormunden oder zu schonen. Die gelernte Sonderpädagogin bezeichnet sich selbst als „fordernde Mutter“ und verlangt den Kindern einiges ab: Dass sie dranbleiben an ihren Übungen, dass sie im Haushalt mithelfen, dass sie selbstständig unterwegs sind. So begleitet Marie ihre jüngere Schwester donnerstags, wenn die Eltern nicht da sind, zur Ballettstunde. Alleine fährt Marie manchmal mit Bus und Bahn nach Köln, etwa eine halbe Stunde vom Wohnort der Familie entfernt, um dort ihre Freundin zu besuchen.

Marie ist ein aufgewecktes Mädchen, das beinahe fehlerfrei spricht. Formulierungen wie „Kinder mit besonderem Förderbedarf“ kommen ihr wie selbstverständlich über die Lippen. Die Behinderung sieht man ihr kaum an, aber sie ist klein, wirkt jünger als sie ist und besucht mit ihren 13 Jahren die fünfte Klasse einer Hauptschule. Die elfjährige Lily ist nicht ganz so fit wie ihre Schwester. Sie ist in der vierten Klasse der örtlichen Grundschule.

Als ich die Familie vor sieben Jahren zum ersten Mal traf, bangten die Eltern gerade, ob sie für Marie einen der raren Plätze in einer integrativen Schule bekommen würden. Dass es sogar für beide Töchter geklappt hat, ist ein großes Glück. Auch sonst haben die Mädchen Glück: Bis auf Lilys Muskelschwäche und einen Sehfehler bei Marie sind sie körperlich ziemlich gesund. Dass beide sich so positiv entwickeln, ist jedoch vor allem einem strammen Förderprogramm zu verdanken, das die Eltern von Anfang an konsequent durchgezogen haben. Jeden Morgen eine halbe Stunde Gymnastik gegen die Muskelschwäche. Logopädie für die deutliche Aussprache. Musikunterricht, Chor, die Instrumente. Ballett, Reiten, Schwimmen. Vernünftig essen – es ist ja nicht selbstverständlich, dass die Mädchen schlank und kräftig sind.

„Bis jetzt sind wir nicht an die Grenzen gestoßen“, sagt der Vater

Um in der Schule am Ball zu bleiben, üben sie mit dem Programm eines Nachhilfeinstituts Mathe und Englisch, die Eltern besorgen die Materialien und kontrollieren die Aufgaben. „Ein Vollzeitjob“, konstatiert Helmut Zilske, der selbst Lehrer ist. Warum das alles? „Wir versuchen, so viel wie möglich in diese Köpfe hineinzubekommen“, erklärt der Vater, „damit die Mädchen möglichst selbstständig werden – wir leben ja nicht ewig.“

Die Mühe wird sichtlich belohnt. Marie und Lily lernen besser, als ihnen von vielen Seiten zugetraut wurde. „Wie oft hat man uns prophezeit, die Kinder würden dieses oder jenes nicht schaffen“, berichtet Helmut Zilske leicht amüsiert. Umso schöner sei es immer wieder für unüberwindbar gehaltene Hürden fallen zu sehen. Zum Beispiel als Lily trotz ihrer extremen Muskelschwäche durch zähes Training mit 18 Monaten laufen konnte. Oder als Marie nach jahrelangem Kampf lernte, Noten zu lesen – heute spielt sie vom Blatt. „Bis jetzt sind wir nicht an die Grenzen gestoßen“, sagt der Vater mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme.

Helmut und Martina Zilske sind überzeugt von dem, was sie tun, und sie strahlen Zuversicht aus. Aber natürlich gibt es auch Phasen des Zweifelns und des Haderns, weil jeder Fortschritt so mühsam erkämpft werden muss. Es braucht enorme Geduld, weil die Kinder nur langsam begreifen und sich vieles schlecht merken können.

„Das Ähnliche ist, dass wir verschieden sind“, erklärt Marie

Inzwischen ist auch Lily ins Wohnzimmer gekommen und hat sich mit ihrer Schwester auf den Boden gesetzt, die Mädchen vertiefen sich in Reim- und Klatschspiele. „Vertragt ihr beiden euch gut?“, will ich wissen. „Meistens“, sagt Marie mit einem verschmitzten Grinsen, rückt näher an Lily heran und legt ihren Arm um sie, „aber manchmal zanken wir auch.“ Lily ergänzt mit einem Blick auf die Schwester: „Manchmal zickt Marie auch.“ Beide wissen längst, dass sie das Down-Syndrom haben. Fragt man sie aber nach Gemeinsamkeiten, antwortet Marie: „Das Ähnliche ist, dass wir verschieden sind.“

Eine außergewöhnliche Familie, hatte ich nach meinem ersten Besuch im Sommer 2004 festgehalten. Im Dezember 2011 müssen die Zilskes eine Weile nachdenken, wenn sie sagen sollen, was das Ungewöhnliche an ihnen ist. „Ich finde da schon gar nichts Besonderes mehr dran“, stellt die Mutter fest, „nicht mal, wenn ich uns mit anderen Familien vergleiche.“ Der Vater sagt schließlich, an seine Kinder gewandt: „Uns schweißt zusammen, dass wir alle ein gemeinsames Ziel haben mit euch beiden, nämlich dass aus euch etwas Gutes wird – was ja schon der Fall ist.“ Marie antwortet wie immer spontaner: „Dass wir gute Laune haben!“ Und Lily gibt nach einigem Nachdenken zu Protokoll: „Dass wir uns auf die Weihnachtsgeschenke freuen.“ Im Grunde eine erstaunlich normale Familie.

Erschienen in Publik-Forum 3/2012

 

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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