Im Himmelreich wird viel gelacht

In einem Hotel am Fuß des Schwarzwalds arbeiten geistig behinderte und nicht behinderte Menschen gleichberechtigt zusammen. Jetzt soll die Idee weiter verbreitet werden

Von Ulrike Schnellbach

Projektleiterin Sophie Neuenhagen mit Barbara Böhler Projektleiterin Sophie Neuenhagen (links) mit Barbara Böhler – Foto: Himmelreich

Bedächtig legt Barbara einen Löffel neben die Espressotasse. „An die andere Seite“, flüstert Marion, die hinter der Theke steht. Barbara legt den Löffel nach rechts, links der Tasse platziert sie einen Keks. Behutsam hebt sie das Tablett hoch, balanciert es zum Tisch und stellt dem Gast seinen Espresso hin. Zurück an der Theke strahlt sie Marion an: „Cool!“

Barbara Böhler ist 24 Jahre alt, hat das Down-Syndrom und arbeitet im Himmelreich. So heißt das Hotel in einem Schwarzwaldgehöft am Eingang zum Höllental zwischen Freiburg und dem Schwarzwald. Im September 2004 wurde hier ein neuartiges Projekt gestartet: Geistig behinderte und nicht behinderte Menschen arbeiten gleichberechtigt zusammen.

Der Unterschied zu den wenigen anderen Gaststätten in Deutschland, in denen Behinderte beschäftigt sind: Im „Himmelreich“ werden sie nach Tarif bezahlt, sie sind nicht in einer Beschützenden Werkstätte angestellt. Der Betrieb ist nicht an einen Wohlfahrtsverband gekoppelt und soll ganz einfach wirtschaftlich arbeiten. 

„Gute Idee“, bescheinigten Kollegen Christoph Biber, als er ihnen erzählte, er werde in seinem neuen Hotel auch mit Behinderten arbeiten. Aber nicht nur in der Küche, sondern auch im Service! „Vergiss es“, sagten sie da und winkten ab. Christoph Biber lacht. Der 42-jährige Hoteldirektor lacht gerne, das verraten die Fältchen um seine Augen. „Das hier muss man mit Humor machen, sonst geht man unter“, sagt er in seinem Schwarzwalddialekt. Manchmal passierten schon komische Dinge.

Der Chef freut sich über die positiven Reaktionen der Gäste

Wie einmal, als Naomi beim Saubermachen plötzlich verschwunden war. Sie fanden sie schließlich – schlafend in einem der frisch gemachten Gästebetten. Naomi Nägele, die ebenfalls 24 ist und das Down-Syndrom hat, lächelt verschmitzt in sich hinein. Was ihr an der neuen Arbeit am meisten Spaß macht? „Das Kloputzen!“, sagt sie prompt und schaut fröhlich in die Runde, die gerade zum Mittagessen beisammen sitzt. „Iiii!“, rufen die anderen und grinsen.

Das Hofgut Himmelreich ist eine gemeinnützige GmbH, beim Start halfen Spenden und eine Finanzspritze des Landeswohlfahrtsverbands, außerdem eine Anschubfinanzierung durch die „Aktion Mensch“. Damit konnte das denkmalgeschützte Wirtshaus mit Nebengebäuden samt Kapelle aus dem 15. Jahrhundert gekauft werden. Für das behinderte Personal gibt es Lohnzuschüsse vom Arbeitsamt und von der Lebenshilfe.

Nach drei Jahren, so die Planung, soll der Betrieb sich selbst tragen. „Wir sind auf dem besten Weg zur Wirtschaftlichkeit“, sagt die Betriebswirtin Sophie Neuenhagen, die das „Himmelreich“ als Projektleiterin managt. Auch Christoph Biber ist nach der Entwicklung der ersten zwei Jahre sehr optimistisch. Die 18 Zimmer seien gut ausgebucht, und in der Gaststätte müsse man am Wochenende reservieren. Vor allem freut sich der Chef über die „durchweg positiven Reaktionen“ seiner Gäste, die zum Teil ahnungslos ins Restaurant kommen. „Manchmal schauen sie schon verdutzt, wenn sie von einem Behinderten bedient werden. Wir reden dann mit ihnen, wenn sie hinausgehen, und erklären ihnen das Konzept. Bislang hat sich noch niemand beschwert. Im Gegenteil!“

Mit sechs behinderten Praktikanten startete das Projekt vor zwei Jahren. Mittlerweile sind zwölf Behinderte und gleich viele Fachkräfte eingestellt. Die Behinderten, zumeist Menschen mit Down-Syndrom oder einer Lernbehinderung, arbeiten 50 Prozent und müssen die Hälfte der Leistung einer Fachkraft bringen. „Wir sind kein Schutzgärtlein“, stellt Christoph Biber klar. Aber der Chef gibt nicht so leicht klein bei: „’Kann ich nicht’ gibt es bei mir nicht“, sagt er, „erstmal wird geübt.“

Viele kleine Eimer Kartoffeln zum Schälen – statt eines großen

Wie bei Max Grässlin, der lernbehindert und motorisch beeinträchtigt ist. Anfangs hätte keiner geglaubt, dass er ein Tablett tragen kann, erzählt Biber. Inzwischen kennt Max die Tischnummern auswendig und bedient recht geschickt. Am Abend ist er es, der den „Coq au vin“ an unseren Tisch bringt. Beim Abstellen gerät die weiße Stoffserviette, mit der Max den Teller hält, in die Rotweinsoße. Gekonnt klappt er das Tuch so zusammen, dass man das Missgeschick nicht mehr sieht, und sagt routiniert: „Und passen Sie auf, der Teller ist teuflisch heiß.“

Nicht nur der Hoteldirektor und die Fachkräfte, die von Anfang an „auf das Konzept eingeschworen wurden“ (Biber), helfen den Behinderten. Ihnen stehen ehrenamtliche „Assistenten“ zur Seite, pensionierte Sonderpädagogen etwa oder bei der Lebenshilfe engagierte Personen. Manchmal üben sie mit den Behinderten einfach Bier einzuschenken, damit das Verhältnis von Flüssigkeit zu Schaum stimmt. Sie helfen aber auch, wenn es Probleme gibt.

Zum Beispiel als Heike in der Küche vor einem großen Kartoffelberg kapitulierte. Sie hatte nach zehn geschälten Kartoffeln keine Lust mehr. Aus seiner Erfahrung mit Behinderten wusste der „Assistent“, dass diese Menschen immer wieder ein kleines Erfolgserlebnis brauchen. Seitdem bekommt Heike nur noch Eimer mit je zehn Kartoffeln hingestellt und arbeitet fröhlich einen nach dem anderen ab.

Eine angegliederte Berufsakademie soll helfen, Nachahmer zu ermutigen

Mit derselben Euphorie und Tatkraft, mit der die „Himmelreichler“ 2004 an die Arbeit gingen, haben sie mittlerweile neue Aufgaben in Angriff genommen. Sie übernahmen den Kiosk des benachbarten Bahnhofes samt Reisebüro – so entstand der erste Arbeitsplatz für einen körperbehinderten Mitarbeiter.

Und sie gründeten die Integrative Berufsakademie, die die Idee weitertragen soll. In einem Nebengebäude veranstaltete die Akademie dieser Tage ihr erstes – sehr gut besuchtes – Seminar zur Integration Behinderter ins Arbeitsleben. „Wir wollen ja Nachahmer finden“, sagt Christoph Biber. Das „Himmelreich“ pflegt regen Austausch mit ähnlichen Einrichtungen bis hin nach Italien und Spanien, Sophie Neuenhagen schwebt ein richtiges Netzwerk vor.

Die Projektleiterin hat noch weitere Pläne: Das Material, das sie für die wöchentlichen Schulungen der behinderten Mitarbeiter zusammengestellt hat, will sie auch externen Lernwilligen zugänglich machen. „Wir bekommen jede Woche Bewerbungen von Menschen, die gerne hier arbeiten würden“, erzählt sie.

Da liegt es nahe, einen Berufsvorbereitungskurs für Behinderte anzubieten: drei Monate Ausbildung im Himmelreich, 14 Monate Praktikum etwa in einem Betrieb der Caritas oder der Diakonie. Das Konzept steht, die Partnerorganisationen sind bereit. Was noch fehlt, ist die  Finanzierungszusage der Agentur für Arbeit. Letztlich geht es schließlich darum, Behinderten den Weg auf den regulären Arbeitsmarkt zu ebnen. „Wir wollen noch mehr Menschen eine Chance eröffnen“, fasst Sophie Neuenhagen das Ziel zusammen. „Weil wir aus unseren Erfahrungen wissen, dass es geht.“

Erschienen u. a. in Publik-Forum 1 / 2007

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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