Im richtigen Leben

Viviane Amann ist Tanzlehrerin. Früher hieß sie Fridolin und war Tanzlehrer

Von Ulrike Schnellbach

Viviane - Promenade Zwei mal Viviane Amann beim Tanzen. – Foto/Montage: Theo Hofsäss

Das Studio ist wunderschön, sie hat es selbst ausgebaut. Der Lichterkranz an der Decke, die raumhohe Spiegelwand hinter dem transparenten Vorhang, der geschmeidige Holzboden, auf dem es sich besonders gut barfuß tanzen lässt. Das Studio lässt sich mieten, inklusive Musikanlage und Tango-, Walzer- und Salsa-CDs. Alles da, und doch fehlt etwas.

Ohne Viviane ist der Raum irgendwie seelenlos. Sie ist es, die hier die Atmosphäre verbreitet mit ihrer intensiven Ausstrahlung. Selbst wenn sie sich beim Tanzkurs in die Ecke zurückzieht und unauffällig beobachtet, ist sie wie ein magnetisches Zentrum, von dem sich die Tanzpaare anziehen lassen. Wo nötig übernimmt sie selbst für ein paar Takte die Führung, als Mann oder als Frau, und wer mit ihr tanzt, hat das Gefühl: „Wow, ich kann tanzen!“ 

Hoppla, das war jetzt ein Viviane-Satz. „Wow“, so sagt sie oft, und sie legt eine Menge Gefühl hinein, beispielsweise wenn sie die Haltung beim Langsamen Walzer zeigt: den schlanken Körper angespannt wie eine Feder, Schultern nach hinten, die Arme ausbreitend und dann eine Einladung andeutend – „eine Einladung“, auch so ein Viviane-Wort. Und wenn die Haltung dann stimmt, sagt sie einen Satz wie: „Wow, so schön ist das Leben!“ und moduliert dabei ihre Stimme wie eine Melodie. Sodann federt sie leicht in die Knie und schwingt sich in den ersten Tanzschritt. Sieht elegant aus. „Aber wichtiger ist, wie es sich anfühlt“, sagt Viviane.

Seit sie Viviane ist, fühlt sich das Leben für sie richtig an. Es war ein langer Weg da hin, der viel Mut forderte und auch anderen einiges zumutete. „Ich bin glücklich, dass ich jetzt so leben kann, hier“, sagt sie. Viele, die wie sie ein neues Leben beginnen, tun das an einem neuen Ort, mit neuen Menschen. Aber Viviane ist in Freiburg so verwurzelt, dass sie blieb, wo sie geboren und aufgewachsen ist – als Fridolin Amann.

„Schade um Fridolin: Er war ein attraktiver Mann“

Wer die 57-Jährige zum ersten Mal sieht, ist zumeist etwas irritiert. Sie trägt figurbetonte Glockenröcke und enge schwarze Shirts, unter denen sich ihre kleine Brust abzeichnet, ein Stirnband im schulterlangen Haar, die Zehennägel dunkelrot lackiert, die Fingernägel perlmutt schimmernd. Doch die Hände sind eher grob, der Kopf ist groß, das Gesicht hat herbe Züge. Und die Stimme ist etwas zu tief für eine Frau, auch wenn Viviane stets sanft spricht.

Doch mit ihren 1,78 Metern, der schmalen Statur und Schuhgröße 41 waren die äußeren Voraussetzungen für eine Geschlechtsumwandlung vergleichsweise einfach. „Unterdessen“, sagt Viviane augenzwinkernd, „kann ich sogar mit meiner großen Nase leben.“

„Wir haben ja alle männliche und weibliche Anteile, aber bei ihr denkt man mehr darüber nach“, sagt eine Tanzschülerin. Sie empfindet Viviane als sehr weiblich, „so einfühlsam und zurückgenommen“: Eine, die ihre Rolle gefunden hat. Andere sehen mehr das Männliche, das Kraftvolle, die manchmal kantigen Bewegungen. „Für mich ist sie keine Frau“, sagt eine, die Viviane schon früher kannte und die Wandlung bedauert: „Fridolin war ein attraktiver Mann.“

Solche Urteile versetzen Viviane noch heute einen Stich. Schon Fridolin musste immer schlucken, wenn er – meist von Frauen – Sätze hörte wie: „Endlich mal ein Mann, der…“. Denn als Mann fühlte er sich ja gerade nicht.

Viviane sitzt zwischen Bambussträuchern auf dem Balkon ihrer behaglichen Mietwohnung, die sie mit ihrer Freundin bewohnt, auf dem Schoß die Katze Romy, die sie liebevoll streichelt. Sie drängt ihre Geschichte niemandem auf, aber wenn sie gefragt wird, spricht sie offen. Etwa darüber, dass Fridolin nicht homosexuell war – Viviane sich heute allerdings vorstellen kann, sich eines Tages in einen Mann zu verlieben.

„Manches tut mir Leid. Aber ich konnte nicht anders“

Oder darüber, wie schwierig es für ihren Sohn war, als sein Vater eine Frau wurde – ausgerechnet als er selbst in der Pubertät steckte. Er sei wütend und aggressiv gewesen, auch weil mit der Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung die Trennung seiner Eltern einherging. „Ich habe großen Respekt davor, wie offen er trotzdem damit umgegangen ist“, sagt Viviane, „und ich bin ihm sehr dankbar.“

Heute hat sie ein entspanntes Verhältnis zu dem fast erwachsenen Sohn. Auch seine Mutter, mit der Fridolin 13 Jahre zusammenlebte, hat gelitten. Nachdenklich sagt Viviane: „Ich habe sicher den Frauen, mit denen ich gelebt habe, eine schwierige Zeit bereitet. Das tut mir Leid. Aber ich konnte nicht anders.“

Viviane erinnert sich nicht an ein Schlüsselerlebnis. Aber ein Satz ihrer Tante ist ihr gut im Gedächtnis: „Am Fridolin ist ein Mädchen verloren gegangen“, sagte die einmal, als sie den zarten Jungen in der Küche hantieren sah. Die drei älteren Brüder passten so viel besser ins Rollenschema als er. Sie waren Rabauken, er war leise, sensibel, kränklich. Auf der Jungenschule fühlte sich Fridolin schrecklich fehl am Platz. In Vivianes Erinnerung hat er sich aber immer bemüht, seine Rolle auszufüllen.

Er betätigte sich handwerklich, aber heimlich lernte er stricken und häkeln. Er studierte Chemie, aber in seiner Fantasie sah er sich in einem Frauenberuf. Er ließ sein Gesicht mit einem Bart zuwachsen, aber die Haare trug er in einem langen Zopf. Er hatte Freundinnen, aber in Wirklichkeit begehrte er nur, so zu sein wie sie. Denen, mit denen er ernsthaft zusammen war, offenbarte er sich.

„Man fühlt sich nicht lebendig. Man tötet etwas ab in sich“

„Andere betäuben sich mit Alkohol und Drogen“, sagt Viviane, „ich habe mich in Aktivitäten gestürzt.“ Brachte sich Weben bei und eröffnete einen Webladen, studierte Sinologie, beschäftigte sich viel mit dem Sohn, arbeitete in einer Schreinerei, begann zu tanzen und gab schließlich Kurse zusammen mit seiner Tanzlehrerin. „Man kann so leben“, sagt Viviane mit Bedacht, „aber der Preis ist hoch: Man fühlt sich nicht lebendig. Man tötet etwas ab in sich.“

Immer wieder hat sie Anläufe genommen, ihren Weg zu gehen. Aber das Tabu, in ihrer Kindheit angelegt, ließ sich nicht so leicht brechen. Vorsichtige Andeutungen hatten ihre Eltern brüsk abgewiesen. „Schlag dir das aus dem Kopf, du spinnst.“ Dieses Gefühl, eine Frau zu sein, es war schlicht verboten. „Es war, als hätte jemand einen Fluch über mich gesprochen.“ Manchmal spürte sie den Druck so stark, dass sie sich umbringen wollte.

Als sie sich davon schließlich befreite und mit der Hormonbehandlung begann, war sie schon über 50, die operative Geschlechtsumwandlung liegt erst zwei Jahre zurück. „Geschlechtsumwandlung“, dieser Begriff spiegelt die Außensicht, sagt Viviane. Für sie selbst war es eine Anpassung: des biologischen an das gefühlte, richtige Geschlecht.

Auf den ersten Blick sehe das jetzt nicht mehr anders aus als bei einer biologischen Frau, sagt Viviane. Endlich ist es so, dass sie mit ihrer äußeren Erscheinung einverstanden ist. „Früher wollte ich mich nicht nackt im Spiegel sehen.“ Heute kann sie ihrem Spiegelbild freundschaftlich zuzwinkern: „Okay, siehst eigentlich ganz gut aus“.

„Heute empfinde ich Mitgefühl mit dem, der ich war“

Sie hatte ziemliche Angst gehabt vor dem Eingriff. Auch davor, als Frau nicht mehr attraktiv zu sein. Und schließlich davor, „dass manche Verhaltensmuster an einem kleben bleiben“, sagt sie und kratzt an ihren Armen, als wolle sie da etwas abreiben. „Ich habe sie aber dann verblüffend schnell verloren, als hätte ich sie abgeduscht.“ Zum Beispiel das Platzhirsch-Gebaren – „ein herrliches Gefühl, da nicht mehr mithalten zu müssen“, sagt sie mit einem befreiten Lachen.

„Als ich es klar hatte, war es letztlich viel leichter als gedacht. Ich stellte fest: Die Welt stürzt nicht ein.“ Zwar gab es Freunde, die sang- und klanglos verschwanden, und solche, die Fridolins Entscheidung ausdrücklich missbilligten. Andere fanden sie nachvollziehbar, irgendwie logisch. Es gab eine Menge professioneller Hilfe. Neue Freundschaften entstanden, auch eine neue Partnerschaft, die sie durch diese schwierige Zeit trug.

Mittlerweile, sagt Viviane, sei ihr altes Leben so weit weg, dass sie es wieder an sich heranlassen könne. „Ich erinnere mich an die Gefühle, die ich als Mann hatte. Ich empfinde Mitgefühl mit dem, der ich war.“ Ein Foto? Hat sie nicht zur Hand, und sie möchte auch lieber keines zeigen. „Es ist vorbei“, sagt sie, und es klingt wie ein Stoßseufzer, als sie den Satz langsam wiederholt: „Es – ist – vorbei!“

Ihren ersten Tanzkurs alleine bot sie als Viviane Fridolin Amann an, das war im Januar 2004. Inzwischen ist sie einfach Viviane, amtlich besiegelt durch die Namensänderung bei Gericht. Und sie hat, neben dem allgemeinen Kursprogramm, ein neues  Angebot entwickelt, das ihr wie auf den Leib geschneidert ist: Equality Dance. Dabei lernen Männer und Frauen jeweils beide Tanzschritte, das Führen und das Folgen.

Es ist ein Spiel mit den Konventionen, das das Verständnis für die jeweils andere Rolle erleichtert und damit das Zusammenspiel. „Jeder sorgt erstmal für sich und dafür, dass er dem Partner oder der Partnerin nicht im Weg steht“, sagt die Tanzlehrerin, und dann wieder so einen Viviane-Satz: „Ihr müsst immer wissen, woher ihr kommt und wohin ihr geht.“ Das bezieht sich aufs Tanzen, aber nicht nur. Wie überhaupt beim Tanzen vieles ist wie im richtigen Leben.

Viviane Amann Viviane Amann auf dem Balkon – Foto: Ulrike Schnellbach

 

Infobox Transsexualität:

Transsexuelle oder transidente Menschen identifizieren sich mit dem anderen Geschlecht, nicht nur mit der sexuellen Geschlechtlichkeit, sondern auch mit der sozialen Rolle. Als Ursache vermuten Wissenschaftler eine gehirnphysiologische Besonderheit, hervorgerufen durch eine veränderte hormonelle Situation während der Schwangerschaft. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, ist also wahrscheinlich angeboren. Die Geschlechtsumwandlung beginnt mit der Hormonbehandlung: Transsexuelle müssen lebenslang gegengeschlechtliche Hormone einnehmen. Später folgt die Operation: Bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen werden die Hoden entfernt, der Penis wird zerlegt. Die Penishaut wird als Vagina nach innen gestülpt, die Eichel als Klitoris eingesetzt. In einer zweiten OP werden Schamlippen und Venushügel aufgebaut. Bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen werden Brüste und Gebärmutter entfernt. Ein Penis-Aufbau ist möglich, aber kompliziert.

Info: www.vividanza.de

 

Erschienen u. a. in der Badischen Zeitung und in Publik-Forum, September 2008

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

PDF-Version (Drücken Sie die rechte Maustaste und klicken Sie auf "Ziel speichern unter")