Türkei im Umbruch

„Der Spielraum wird immer enger“

Terroranschläge, Einschränkung der Pressefreiheit, Unterdrückung der Opposition – wie ist die Stimmung in der Türkei? Wer traut sich noch den Mund aufzumachen? Ulrike Schnellbach hat mit Felix Schmidt gesprochen, der das Istanbuler Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. Präsident Erdogan wirft er Verfassungsbruch vor. Der hat damit offenbar kein Problem.

Kenan Önen
Felix Schmidt – Foto: Ulrike Schnellbach

Terroranschläge sind in der Türkei fast an der Tagesordnung, mal von der kurdischen PKK, mal vom „Islamischen Staat“. Wie lebt es sich in Istanbul in diesen Zeiten?

Felix Schmidt: Die Stimmung hat sich geändert. Die Menschen sind bedrückt, nervös, die Feierlaune ist ihnen vergangen. Aber gleichzeitig geht der Alltag weiter. Man muss ja arbeiten gehen, die Familie ernähren, und bei geschätzt 16 Millionen Einwohnern kann man nicht einfach alles zum Stillstand bringen. Die Leute gehen also weiter ihren Beschäftigungen nach. Und natürlich kann man auch weiterhin abends am Bosporus schön Fisch essen gehen.

Verhalten Sie sich selbst anders? Haben Sie mehr Angst, wenn Sie am Bosporus essen gehen?

Felix Schmidt: Ich versuche natürlich auch, so normal wie möglich zu sein. Aber ich ertappe mich dabei, dass ich danach Ausschau halte, ob irgendwo eine verdächtige Tasche steht, die eine Bombe enthalten könnte, oder ob es verdächtige Menschenansammlungen gibt. Ich überlege mir genau, wo und wie ich mich bewege, ich bin mir der Gefahren bewusst. Trotzdem lebe und arbeite ich weiterhin gerne in Istanbul und denke nicht daran, die Stadt zu verlassen.

Präsident Erdogan nimmt die Terroranschläge zum Vorwand, um immer härter gegen Kritiker vorzugehen, indem er ihnen Unterstützung terroristischer Vereinigungen vorwirft: Journalisten werden verhaftet, Oppositionspolitiker mit Gerichtsverfahren überzogen. Wer traut sich eigentlich noch den Mund aufzumachen?

Felix Schmidt: Es gibt nach wie vor eine kritische Presse. Der Spielraum wird immer enger und viele haben auch die berühmte Schere im Kopf, weil sie eine Anklage wegen Beleidigung aufgrund einer falschen Wortwahl vermeiden wollen. Aber es ist nicht so, dass die oppositionelle Presse völlig tot wäre. Und es gibt auch immer noch eine lebhafte Zivilgesellschaft.

Vor drei Jahren gab es im Zusammenhang mit den Gezipark-Protesten große Hoffnung auf eine Stärkung dieser Kräfte. Was ist daraus geworden?

Felix Schmidt: Die Leute sind da und sie sind auch nicht plötzlich Erdogan-Anhänger geworden. Sie bilden weiterhin eine große kritische Masse.

Wie äußern sie sich?

Felix Schmidt: Zum Teil sind sie frustriert in die innere Emigration gegangen. Manche versuchen aber mit neuen Protestformen kleinere Demonstrationen zu machen. Zum dritten Jahrestag der Gezipark-Proteste gab es Gruppen, die auf der Istiklal-Straße in der Innenstadt Transparente entrollt haben, aber sie hatten keine Chance, der Polizeieinsatz war zu massiv. Der Gezipark selber war abgesperrt und von einem Polizeicordon umgeben.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet in der Regel mit kritischen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen zusammen. Wie frei können Sie in so einem Umfeld arbeiten?

Felix Schmidt: Wir machen weiter unsere Programme, natürlich nicht nur mit kritischen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wir arbeiten auch mit Regierungsvertretern zusammen. Unser Ziel ist es, den Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen zu führen. Wir wissen natürlich, dass es nicht unbedingt gern gesehen wird, wenn wir beispielsweise kritische Frauengruppen unterstützen, aber bisher haben wir noch keine großen Einschränkungen erdulden müssen. Wir sind zwar verpflichtet, gegenüber der Regierung über alle unsere Aktivitäten zu berichten, diesen Anspruch finde ich aber auch legitim.

Und wie ist das bei Ihnen mit der Schere im Kopf?

Felix Schmidt: Ich muss gestehen, dass ich nicht frei davon bin. Ich möchte ja gewährleisten, dass wir keine Schwierigkeiten bekommen oder gar das Büro schließen müssen. Es kann also sein, dass ich mich selbst zensiere. Aber ich Moment habe ich den Eindruck, wir können durchaus noch arbeiten.

Das deutsch-türkische Verhältnis ist sehr angespannt, zumal nach der Armenien-Resolution des Bundestages. Welches Bild von Deutschland herrscht in der türkischen Gesellschaft vor?

Felix Schmidt: Generell hat Deutschland einen sehr, sehr guten Ruf in der Türkei, es gibt eine große Liebe zu Deutschland und einen fruchtbaren Austausch auf ganz vielen Ebenen. Der Bundestagsbeschluss zu Armenien hat allerdings bei fast allen Türken ein Tabu verletzt. Die Linken und die Rechten gleichermaßen folgen dem offiziellen Narrativ, dass die Türken sich nichts vorzuwerfen hätten, und empfinden die Resolution als Bevormundung. Und da ist der Nationalstolz stärker als die traditionell positive Beziehung zu Deutschland.

Glaubt in der Türkei noch irgendjemand ernsthaft an einen EU-Beitritt? Wünscht die Bevölkerung ihn überhaupt noch?

Felix Schmidt: Überraschenderweise steigt die Zustimmung zu Europa sogar. Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, liegt sie bei weit über 60 Prozent. Aber faktisch bewegt sich die Türkei durch die derzeitige Politik weg von Europa, indem demokratische Grundprinzipien erodieren wie Rede- und Meinungsfreiheit oder die Unabhängigkeit der Justiz.

Welches langfristige Ziel verfolgt Erdogan, welche Vision hat er für sein Land? 

Felix Schmidt: Er will ein autoritäres Präsidialsystem, in dem er weitgehende Machtbefugnisse bekommt.

Aber er ist doch auch so schon der starke Mann…

Felix Schmidt: Er sagt ja auch ganz offen: Wir haben das Präsidialsystem faktisch längst erreicht, nun müssen wir nur die Verfassung noch an die Wirklichkeit anpassen. Damit gibt er zu, dass er die Verfassung verletzt hat.

Trotzdem lieben ihn viele Türken.

Felix Schmidt: Die Gesellschaft ist total gespalten, aber Erdogan hat nach wie vor eine große Anhängerschaft. Er hat ja auch tatsächlich viel geleistet für das Land: Er hat die Armee in ihre Schranken gewiesen. Sogar der Friedensprozess mit den Kurden war seine Initiative, nur leider hat er sie wieder beendet. Am höchsten rechnet man ihm den wirtschaftlichen Boom an, der vor allem der armen, ländlichen Bevölkerung zugute gekommen ist, deren Lebensbedingungen sich unter Erdogan stark verbessert haben. Aber es gibt derzeit viele Risiken am Horizont, dass die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte bald zu Ende gehen könnte.

Dr. Felix Schmidt, Jahrgang 1955, leitet seit 2014 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul. Zuvor war er Büroleiter der Stiftung in Stuttgart. 

Link zum Artikel in der Badischen Zeitung, 24. Juni 2016

 

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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