„Große Männer verstehen kleine Männer einfach besser“

Männer machen sich als Erzieher rar – und sind deshalb heiß begehrt. Was machen sie anders als Frauen?

Von Ulrike Schnellbach

Joshua und Ari haben etwas, das viele Kinder vermissen: einen Vater, der viel zuhause ist. Der mit ihnen joggt, Tennis spielt und Inliner fährt. Der mittags für sie kocht und abends mit ihnen rauft. Joshua, 11, und Ari, 8, haben es auch in der Schule gut getroffen: Beide haben einen Klassenlehrer.

Nicht dass ein Lehrer per se besser wäre als eine Lehrerin – „die Mischung ist gerade gut“, findet Joshua. Aber genau diese Mischung fehlt in der Erziehung häufig. In den meisten Familien ist nach wie vor die Mutter viel mehr präsent als der Vater, viele Kinder leben alleine mit ihren Müttern. Im Kindergarten kommen Erzieher einer raren Orchideenart gleich, in der Grundschule unterrichten 87 Prozent Frauen.

Dass das ein Problem vor allem für die Jungs ist, wird seit einigen Jahren thematisiert. Es fehlt ihnen an Rollenvorbildern, an denen sie sich orientieren und reiben können. Das wird als ein möglicher Grund dafür gesehen, dass Jungen mehr Probleme haben – und machen – als Mädchen. Jungen zeigen im Durchschnitt schlechtere Leistungen in der Schule, sind an Gymnasien in der Minderheit, an Haupt- und Sonderschulen deutlich in der Mehrheit. Jungen fallen mehr durch aggressives Verhalten auf, bei Gewalt unter Jugendlichen sind sie häufiger Täter – und häufiger Opfer – als Mädchen. Jungen sind anfälliger für Drogen und für (gewalttätige) Computerspiele. Nach Jahren der gezielten Mädchenförderung sprechen Erziehungswissenschaftler mittlerweile von Jungen als dem „schwachen Geschlecht“.

Was brauchen Jungen anders als Mädchen? Und was machen Männer in der Erziehung anders als Frauen? Vorweg: Die Frage, ob Geschlechtsunterschiede genetisch angelegt sind oder durch Sozialisation erworben werden, ist schwer zu beantworten. Deshalb ist Skepsis geboten gegenüber einer geschlechtsdifferenzierten Erziehung, die Jungen per se anders behandelt als Mädchen. Doch in der Praxis scheint es zumindest der Tendenz nach Unterschiede bei Bedürfnissen und Vorlieben zu geben, sowohl zwischen den Kindern als auch zwischen erwachsenen Männern und Frauen. Eine Spurensuche.

Der Erzieher

Dominik kommt mit roten Striemen auf der Backe in den Kindergarten, er leidet sichtlich. Frank König beugt sich zu ihm und begutachtet die Verletzung gebührend. Dann erzählt er dem Fünfjährigen, dass Rugby-Spieler sich ihre Wangen so ähnlich bemalten. Er klopft ihm aufmunternd auf die Schulter und sagt: „Na, dann müssen wir uns heute wohl mal um deine andere Backe kümmern.“

Erzieher Frank König
"Ich rede weniger und handle mehr": Erzieher Frank König

„Natürlich tröste ich auch“, sagt der 32-jährige Erzieher, „aber nicht so lang. Ich nehme ein weinendes Kind auch auf den Schoß, aber dann heißt es relativ schnell: ‚Jetzt geht’s weiter’.“ Insgesamt agierten Männer weniger emotional, weniger mitfühlend, glaubt König. Und sie seien nicht so kommunikativ. „Ich rede weniger und handle schneller“, sagt er mit einem Blick auf seine Kollegin, die sich gerade mit zwei weinenden Streithähnen auf eine Bank setzt und ein klärendes Gespräch beginnt. „Solche Problemgespräche führe ich eher nicht.“

Die Kinder lieben Herrn König als „Quatschmacher“. Was macht er sonst anders als die Erzieherin? „Der sägt“, sagt Dominik schlicht. Und das ist wichtig: Mit Herrn König bauen die Kinder im Werkraum Garagen für ihre Rennautos oder Katapulte für die Ritterburg. Heute konstruiert Frank König im Garten ein Dach für ein Holzhaus. Er lässt die Kinder Holzlatten durchsägen. Dann die Latten aufs Häuschen gewuchtet und probeweise ein paar Dachziegel drauf: Ob die Neigung ausreicht, damit der Regen abfließt? „Holt mal einen Eimer Wasser“, sagt König, „das müssen wir ausprobieren.“ Als die Kinder dabei nasse Füße bekommen, lacht der Erzieher. Er ist umringt von Jungs, ausschließlich.

„Ich lasse die Kinder viel ausprobieren“, sagt Frank König, „ich erforsche die Welt mit ihnen – das sprichwörtliche Kind im Mann.“ Für die Kinder verkörpert König aber auch den starken Mann: „Ich bin zwar nur 1,70 Meter groß, aber ich schleppe Sachen herum, ich packe an, ich hebe Kinder in die Luft.“ Für Jungs sei es besonders wichtig, ihre Kräfte zu messen und zu erleben, wer stärker ist. Deshalb nimmt er öfter mal einen in die Mangel und kämpft mit ihm. König ist pädagogisch ausgebildet, er hat selbst eine Tochter und einen Sohn, aber er ist sich im Klaren: „Ich weiß mehr über Jungs als über Mädchen, ich kann mich besser in sie hineinversetzen.“

Der Kinderhaus-Leiter

Männer machen gerne besondere Projekte, ist Michael Domonells Beobachtung, aber bei der Alltagsarbeit halten sie sich eher zurück. Domonell leitet eine Tageseinrichtung mit 135 Kindern. Die Erzieher dort haben mit den Kindern den Garten umgestaltet, Klettergerüste und Holzhäuser gebaut und ein zünftiges Richtfest gefeiert. „Aber Kleinkinder wickeln oder Geschirr abspülen: das machen Frauen bereitwilliger.“

Kinderhausleiter Michael Domonell
"Ich packe auch mal einen am Schlafittchen":
Kinderhausleiter Michael Domonell

Deshalb würde Domonell nicht um jeden Preis einen Mann einstellen – in erster Linie komme es auf die Kompetenzen und die Persönlichkeit an. „Das ist nicht einfach ein angenehmer Job, umgeben von Frauen“, stellt Domonell klar. „Das ist ein Beruf, bei dem man hart an der eigenen Person arbeiten muss.“

Der 50-Jährige ist gelernter Erzieher und Sozialpädagoge, er hat zwei erwachsene Söhne. Als Einrichtungsleiter hat er sich die Jungen-Arbeit zur Aufgabe gemacht: Er betreut eine Gruppe Hortkinder, mit denen er überwiegend Fußball spielt. Dabei trainiert er Verhaltensregeln und Fairness – „harte Arbeit mit der Gruppe“, die er keiner Kollegin zumuten möchte, wie er sagt. Warum? Vielleicht weil sie weniger Autorität ausstrahlen, überlegt Domonell. „Ich pack’ auch mal einen am Schlafittchen.“

Tatsächlich riefen die Erzieherinnen manchmal den Chef hinzu, wenn es Konflikte mit Jungen gibt. „Das ist das alte Prinzip: ‚Warte nur, bis der Papa heimkommt’“, sagt Domonell schmunzelnd und zeigt Verständnis: Jungen seien im Durchschnitt auffälliger, aggressiver – und damit für Frauen schwieriger als Mädchen, die sich eher angepasst verhielten. Dass Männer oft strenger und lauter mit den Kindern umgehen, sieht Domonell indes nicht nur positiv: „Das kann auch etwas Bedrohliches haben.“

Was brauchen Jungs anders als Mädchen? Struktur, Verlässlichkeit, klare Ansagen, zählt Domonell auf. Mehr körperliche Herausforderungen, Wettspiele und viel Platz. „Die sprengen manchmal schlichtweg den häuslichen Rahmen.“ Deshalb sprechen sie auch bei Ausflügen besonders auf Angebote an, die Männer gerne machen: einen Kletterparcours zum Beispiel oder eine anstrengende Wanderung. „Und am Lagerfeuer ist dann ein langes Vespermesser dabei.“

Der Grundschullehrer

Als Mann in einer Frauendomäne genießt Hans Georg Britz-Mauch einen Sonderstatus bei den Kindern. „Ich muss schon viel falsch machen, um es mir mit einer Klasse zu verderben“, sagt der 42-jährige Grundschullehrer. Denn zuerst einmal fänden es die Schüler – auch die Mädchen – einfach spannend, wenn ein Mann vor der Klasse steht. Britz-Mauch, einer von drei Männern im 20-köpfigen Kollegium, leitet auch den Schulchor und trainiert die Fußballmannschaften.

Grundschullehrer Hans Georg Britz-Mauch mit seiner Fußballmannschaft
"Jungen testen Grenzen aus": Grundschullehrer
Hans Georg Britz-Mauch mit seiner Fußballmannschaft

Was macht er im Unterricht anders als die Kolleginnen? Da zögert der Lehrer, es fehle ihm der direkte Vergleich. Als Vater zweier Söhne habe er allerdings die Erfahrung gemacht, dass Männer Streit besser aushalten als Frauen, die mehr Wert auf Harmonie legten. Sein Erziehungsstil, auch den Schülern gegenüber: ganz direkt sein. „Aber ich kritisiere nicht die Person, sondern das störende Verhalten.“

Wenn sich ein getadelter Schüler danach ordentlich meldet, nimmt er ihn auch wieder dran. Von Abstrafen durch Nichtbeachtung hält der Lehrer  nichts. Ein Vater, der ihn bei Fußballturnieren begleitet hat, bestätigt: „Herr Britz kann einen Schüler im einen Moment sehr deutlich in den Senkel stellen. Und kurz darauf legt er ihm den Arm um die Schulter.“

Jungen testen nach Einschätzung von Britz-Mauch ständig die Grenzen aus. Sie raufen mehr, setzen sich auseinander, auch aggressiv. „Aber das finden Männer nicht so tragisch“, glaubt der Lehrer. Schließlich erinnert er sich noch gut, wie er sich als Junge einmal zu einer Prügelei auf dem Sportplatz verabredete. Wie reagiert er heute, wenn er eine Schlägerei sieht? „Natürlich schreite ich ein, sage ‚Stopp, das macht man nicht’. Aber ich würde es nicht gleich problematisieren.“   

Britz-Mauch hat seine Klasse gefragt. „Lehrer schimpfen mehr mit den Mädchen“, war die wichtigste Antwort, „Lehrerinnen mehr mit den Jungs.“ Das ist eine zentrale Erkenntnis. Denn Jungen werden in der Schule tatsächlich häufig getadelt, weil sie nicht still sitzen, weil ihre Hefte unordentlich aussehen oder weil sie dazwischenreden. Eine Lehrerin sagt selbstkritisch: „Wenn zwei Mädchen tuscheln und zwei Jungs Papierkügelchen schießen, stört beides gleich. Aber die Jungen werden eher rausgeschickt.“

Manchen Studien zufolge erhalten Schüler sogar bei gleichen Leistungen schlechtere Noten als ihre Klassenkameradinnen. Dabei brauchen sie, wie Untersuchungen ergeben haben, viel mehr Lob als Mädchen, um sich nicht zurückgesetzt zu fühlen. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die sie durch störendes Verhalten auf sich ziehen, gleicht dieses gefühlte Defizit nicht aus, glaubt Hans Georg Britz-Mauch: „Auf Dauer macht das nicht glücklich.“ 

Die Kinder

„Herr Britz schimpft weniger mit uns“, bestätigt Ari auf Anhieb. Er ist bei Britz-Mauch in der zweiten Klasse. „Manchmal veräppelt er uns, das ist lustig.“ Ari findet es gut, „dass Herr Britz uns schwierige Aufgaben gibt“. Ihm ist außerdem aufgefallen, „dass Männer eine andere Stimme haben als Frauen“ – ein Faktor, der offenbar dazu führt, dass Kinder bei männlichen Lehrern im Durchschnitt aufmerksamer sind.

Joshua und Ari Roth
"Jungs brauchen Bewegung": Joshua und Ari Roth

„Jungs brauchen Bewegung“, sagt der Fünftklässler Joshua. Sein Klassenlehrer versteht das. Wenn die Unruhe im Unterricht zu groß wird, schickt er die Kinder los, einmal durchs Schulhaus zu rennen. Lehrerinnen geben in der Regel schriftliche Strafarbeiten, sagt Joshua und gibt unumwunden zu: „Das regt uns an, noch mehr Quatsch zu machen.“ Der Klassenlehrer hingegen lässt störende Schüler zur Strafe Liegestütze machen, sofort. „Danach sind wir ausgepowert“, sagt Joshua, „dann klappt’s auch wieder mit dem Stillsitzen.“

 Die Eltern

„Manches bei kleinen Männern verstehen große Männer einfach besser“, sagt Thomas Roth. Er ist Schreiner, 48 Jahre alt und Vater von Joshua und Ari. „Zum Beispiel, dass kleine Männer schon mit zwei Jahren Interesse an Frauen haben, dass sie einem Fußball hinterher schauen und einem Motorrad.“

Als Joshua zwei war, kaufte seine Mutter ein Buch mit dem Titel „Jungs verstehen“. Sie las darin zum Beispiel, dass Jungen ihre Kräfte messen wollen. „Also kämpfe ich mit ihnen, weil sie das brauchen“, erzählt Simone Roth. Ihm hingegen mache das Raufen auch noch Spaß, sagt ihr Mann lachend, „das ist der Unterschied“. In der Familie ist er hauptsächlich für die körperlichen Aktivitäten zuständig. „Ich finde es toll“, sagt Joshua, „dass mein Papa so viel Sport mit uns macht. Und dass man mit ihm immer Witze machen kann.“ An ihrer Mama schätzen Joshua und Ari vor allem, „dass sie so viel für die Schule mit uns übt.“

Beide Eltern sind froh, dass die Söhne nach lauter Erzieherinnen nun auch männliche Lehrer haben. Simone Roth, die selbst Hauptschullehrerin ist, sagt: „Männer nehmen mehr mit Humor.“ Nach ihrer Beobachtung sind Frauen nachtragender, sie stempeln Jungen schneller als Störer ab. Bei Kollegen bemerkt sie dagegen oft „die Fähigkeit zum Neustart am nächsten Morgen“.

Simone und Thomas Roth sehen es als Teil des Problems, dass so viel über die vermeintlichen Defizite von Jungen gesprochen wird. Vor allem Mütter von Mädchen machten bei Elternabenden Stimmung gegen Jungs. „Man müsste die Kinder mal Stärken und Schwächen aufschreiben lassen“, schlägt Thomas Roth vor. Dann würde nicht nur kritisiert, dass störende Jungen Mädchen am konzentrierten Lernen hindern. Dann würde vielleicht auch mal registriert, wenn Mädchen im Schullandheim ihre Klassenkameraden um eine Bergwanderung bringen – so bei einer Tour, die Roth unlängst begleitete: „Einige Mädchen wollten nach 500 Metern rasten, nach der halben Strecke mussten wir die Wanderung abbrechen. Die Jungs wären gerne weitergegangen.“

Fazit

Natürlich – und zum Glück – gibt es Männer, die basteln, singen und wunderbar trösten. Es gibt Lehrerinnen, die Ritter-Projekte anbieten, Erzieherinnen, die im Werkraum arbeiten und Mütter, die mit ihren Kindern im Wald herumstromern. Und selbstverständlich gibt es ungestüme Mädchen ebenso wie Jungen, die problemlos still sitzen können. Und es ist wünschenswert, dass sich die klischeehaften Rollenzuschreibungen weiter aufweichen. 

Dennoch lässt sich beobachten: Männer machen als Erzieher manches anders als Frauen. Sie verstehen besser, wie Jungen ticken und was sie brauchen. Vor allem aber sind sie: rar. „Es geht nicht darum, ob Männer als Lehrer besser sind als Frauen“, stellt eine Grundschul-Rektorin klar, „es geht einfach um die Ausgewogenheit.“ Das sehen auch viele Eltern so. Besonders allein erziehende Mütter begrüßen es, wenn ihre Kinder mit Erziehern und Lehrern zu tun haben.

Übrigens sind männliche Bezugspersonen nicht nur für die Jungen von Bedeutung. „Gerade die Mädchen hängen oft wie die Kletten an den Männern“, erzählt die Kita-Leiterin Sigrid Diebold. Doch wichtiger als das Geschlecht sei in jedem Fall die persönliche Kompetenz. „Und wichtiger als eine geschlechtsspezifische Pädagogik ist die Vielfalt der Angebote, damit die Kinder sich das holen können, was sie gerade brauchen.“ Zur Normalität gehöre dann auch, ergänzt Diebold, dass ein Erzieher kocht und sich eine Erzieherin mit dem Thema Elektrik beschäftigt. Wie der elfjährige Joshua so schön sagt: Die Mischung macht’s.

Erschienen in Publik-Forum Nr. 10/2009 und der Badischen Zeitung vom 15. 6. 2009

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

PDF-Version (Drücken Sie die rechte Maustaste und klicken Sie auf "Ziel speichern unter")