Das Dilemma der Helfer

Kann es manchmal besser sein, nicht zu helfen? Die niederländische Autorin Linda Polman erhebt schwere Vorwürfe gegen die internationalen Hilfsorganisationen. Die gestehen Probleme bei Einsätzen in Krisenregionen ein, wehren sich aber gegen Pauschalisierung.

Linda Polman, niederländische Autorin und Afrika-Expertin. Foto: Stefan Teplan Linda Polman, niederländische Autorin und Afrika-Expertin. Foto: Stefan Teplan

Von Ulrike Schnellbach

Die Vorwürfe wiegen schwer, und sie kommen aus berufenem Mund: Die niederländische Journalistin Linda Polman lebte jahrzehntelang in Krisenregionen vor allem in Afrika, und sie hat sich auf die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen spezialisiert. Seit den 1990-er Jahren hat sie die Konfliktherde in Ruanda, Sierra Leone, Liberia, Somalia, Äthiopien oder Sudan aus nächster Nähe beobachtet, hat in jüngster Vergangenheit in Afghanistan und Haiti recherchiert. Sie hat mit den Verantwortlichen der Weltbank diniert, an internationalen Geberkonferenzen teilgenommen, Berichte der UNO und von Nichtregierungsorganisationen (NGO) studiert. Vor allem aber hat sie mit vielen Menschen in Flüchtlingslagern gesprochen. Und immer wieder stieß sie auf massive Probleme: auf Missbrauch der humanitären Hilfe durch korrupte Regierungen oder Rebellengruppen und auf katastrophal fehlgeleitete Initiativen kleiner NGO, vor allem aus dem christlichen Lager.

Manchmal, so suggeriert Linda Polman in ihrem 2010 erschienenen Buch „Die Mitleidsindustrie“, könnte es hilfreicher sein, die Hilfe abzuziehen. Das ist harter Tobak, und wer das Buch liest, wird unwillkürlich so reagieren: Lieber gar nicht mehr spenden, als diese unfähige, schädliche, auf den eigenen Vorteil bedachte  Hilfsindustrie zu unterstützen. Damit müssen sich die Hilfsorganisationen auseinandersetzen, und das haben sie jüngst ausführlich getan bei einem Symposium, das Caritas international mit der Autorin und zahlreichen Experten in Freiburg ausgerichtet hat. Dabei konterten die Vertreter der angegriffenen Organisationen Polmans Vorwürfe mit Kritik an ihrem Buch. Der Tenor: Was sie beschreibt, komme durchaus vor; es handle sich jedoch um extreme Beispiele, die Polman unzulässig verallgemeinere. Zumindest einen Schuh müssen sich die Hilfsorganisationen dabei nicht anziehen: den Vorwurf, dass sie vor den Problemen Augen und Ohren verschlössen und sich mit der Kritik nicht auseinandersetzten. Denn es gibt nicht erst seit Erscheinen von Polmans Streitschrift unter den NGO engagierte Diskussionen über Risiken und Nebenwirkungen ihrer Arbeit sowie ernsthafte Versuche, Fehler zu vermeiden und Missbrauch zu verhindern.

Wenn internationale Hilfe den Falschen in die Hände spielt

Linda Polman hat beispielsweise miterlebt, wie zwangsamputierte Kinder in Sierra Leone zu den Lieblingen der Medien und der Spender wurden, weil sie sich so gut ins Bild setzen ließen. Rebellen hatten ihnen in den 1990-er Jahren Hände oder Arme abgehackt, die Opfer lebten nun in einem Lager in Freetown und wurden dort von Helfern und Journalisten aus aller Welt geradezu überrannt. Eine kleine christliche Initiative aus den USA organisierte gar Adoptionen dieser Kinder – und trennte einige, so Polman, gegen deren Willen von ihren Familien. Die Autorin fordert:  „Wie Rollstuhlfahrer ein Recht auf Schutz vor bereitwilligen Helfern haben, die ihren Rollstuhl bei Rot über die Straße schieben wollen, sollten Opfer in Kriegsgebieten ein Recht auf Schutz vor humanitären Helfern haben, die ungebeten kommen und ihren göttlichen Weg verfolgen.“

Am drastischsten beschreibt Linda Polman am Völkermord in Ruanda 1994, wie internationale Hilfe den Falschen in die Hände spielen kann: Fanatische Hutus hatten die Volksgruppe der Tutsi und gemäßigte Hutus grausam verfolgt und massenhaft ermordet. Hinter den Überlebenden zogen sie daraufhin in Flüchtlingscamps im benachbarten Zaire (heute Kongo). Für die Helfer waren Täter und Oper kaum zu unterscheiden. So konnten die Hutu-Extremisten die internationale Hilfe nutzen, um ihre Krieger wieder aufzupäppeln und den Vernichtungsfeldzug weiter zu planen. „Ruanda war eine ethische Katastrophe“, räumt Jürgen Lieser ein, der stellvertretende Leiter von Caritas international: „Dort haben sowohl die internationale Völkergemeinschaft als auch die Nichtregierungsorganisationen versagt.“ Doch hätten die Hilfsorganisationen aus dieser Skandal ihre Lehren gezogen.  

300 Organisationen weltweit haben seither einen Verhaltenskodex des Internationalen Roten Kreuzes aus dem Jahr 1993 unterzeichnet. Darin ist festgeschrieben, dass Hilfe nicht für politische Ziele missbraucht werden darf, dass sie unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit geleistet wird und die Würde der Opfer nicht verletzen darf. In der konkreten Arbeit jedoch habe sich dadurch wenig geändert, konstatiert etwa der SPIEGEL-Korrespondent Horand Knaup, der wie Polman seit Jahren in Afrika arbeitet. „Es gelingt nicht, den Missbrauch zu verhindern.“

Die Hilfe als Teil der Kriegsführung

Viel diskutiert haben die Hilfsorganisationen auch über den Ansatz „Do no harm“ (Richte keinen Schaden an), den die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Mary Anderson 1996 formulierte. Auch sie hatte festgestellt, dass Hilfsaktivitäten in Bürgerkriegen manchmal dazu beitragen, die Gewalt eskalieren zu lassen. Die Grundregeln für die Planung von Hilfsmaßnahmen in Konfliktsituationen, die Anderson daraufhin aufstellte, werden von vielen Hilfsorganisationen als verbindlich anerkannt.

Ein zentraler Grundsatz der meisten NGO ist strikte Neutralität. Linda Polman hält diesen Anspruch nicht nur für unrealistisch, sondern für unverantwortlich. Indem Regierungen oder Rebellen einen Teil der Hilfe in Form von „Steuern“ einkassieren, werden die Helfer zu unfreiwilligen Kollaborateuren, sagt sie. So habe Präsident Charles Taylor im liberianischen Bürgerkrieg 15 Prozent der Hilfsgüter für seine eigenen Zwecke eingezogen, in Somalia seien bis zu 80 Prozent an die Warlords geflossen. „Alle Parteien in diesen Konflikten betrachten die internationale Hilfe als Teil des Krieges und missbrauchen sie für ihre Zwecke. Wie kann man sich da für neutral erklären?“

Was tun, wenn Hilfe mehr schadet als nützt?

Selbst bei Hungersnöten sieht Polman auch politische Ursachen. Beispiel Sudan: Dort hätten ethnisch motivierte Vertreibungen durch die Regierung eine Hungersnot erst ausgelöst. „Hunger fällt nicht vom Himmel, sondern er wird gemacht“, sagt auch die Direktorin der Diakonie Katastrophenhilfe, Cornelia Füllkrug-Weitzel, die sich mit der Problematik ebenfalls seit Jahren auseinandersetzt. Auf einer Konferenz zum Thema „Macht und Ohnmacht der Hilfe“ von Medico International im Jahr 2003 in Frankfurt gab sie zu bedenken: „Hilfsorganisationen müssen nicht Menschenrechts-, Entwicklungs- und Friedenspolitik betreiben, aber alle drei Komponenten mitdenken, wenn sie ihre Einsätze planen.“

Was also tun, wenn die Hilfe letztendlich mehr schadet als nützt? Im Sudan diktiert dieselbe Regierung, die für die Vertreibungen verantwortlich ist, in welchen Regionen die internationale Gemeinschaft helfen darf – und wo nicht. Wäre es unter solchen Umständen nicht angemessen, die Hilfe einzustellen? Einzelne Organisationen haben im Sudan, wie auch im Fall Ruanda, tatsächlich ihre Leute und ihr Geld abgezogen. Doch hat es noch nie eine konzertierte Aktion aller Hilfsorganisationen gegeben. Stattdessen springen, wenn eine abzieht, andere in die Bresche. Denn unter den Tausenden kleinen und großen NGO – weltweit sollen 37.000 am Werk sein – herrscht Konkurrenz. „Sie wollen Gutes tun“, konzediert Polman, „aber sie achten dabei auch auf ihren eigenen Nutzen.“ Sie alle trachteten nach einem möglichst großen Stück des Millarden-Kuchens aus Spenden und öffentlichen Zuschüssen. „Und niemals hat es auch nur eine Klage gegen die Hilfsorganisationen gegeben, weil sie mit ihrer Hilfe die Fortsetzung dieser Feldzüge ermöglichen“, klagt Polman.

Was wäre die Alternative? „Dem Krieg eine Chance geben?“, wie ein Mitarbeiter von Malteser International auf dem Freiburger Symposium provokativ fragte? Nun ja, antwortete Linda Polman, „lasst sie zumindest für ihre Kriege selbst bezahlen.“ Das hieße jedoch im Zweifel, ein verhungerndes Kind seinem Schicksal zu überlassen – für die meisten Helfer unvorstellbar. Linda Polman ist sich des Dilemmas bewusst. In ihrem Buch erzählt sie von einem 16-jährigen Mädchen in Freetown, das von Rebellen gezwungen worden war, die eigene abgehackte Hand aufzuessen. Der Arzt im Flüchtlingslager fragte die Journalistin: „Sollen wir einfach weggehen und das Mädchen im Stich lassen?“ Polmans Antwort: „Wir müssen uns diese Frage zumindest stellen. Sonst bereiten wir das Schlimmste für morgen vor.“

Das haitianische Trauerspiel

Wer das im konkreten Fall zu Recht als grausam und unmenschlich empfindet, sollte sich vergegenwärtigen: Im großen Maßstab geschieht das tagtäglich. Denn überall dort, wo die Geberländer keine eigenen Interessen wie Rohstoffe oder Terrorbekämpfung haben, und überall dort, wo die Medien nicht hinschauen, werden Notleidende ihrem Schicksal überlassen. Es gibt für sie weder Entwicklungshilfe noch Spenden.

Die Hilfsorganisationen nehmen für sich in Anspruch, aus Fehlentwicklungen der Vergangenheit gelernt zu haben. Doch aktuelle Beispiele wie Afghanistan oder Haiti zeigen, dass auch heute nicht alles gut läuft. Zwar sind in Haiti Tausende Organisationen zugange, aber das Ergebnis fast anderthalb Jahre nach dem Erdbeben ist ernüchternd. „Haiti ist nicht nur für die Menschen dort, sondern auch für die Hilfsorganisationen ein Albtraum“, stellt auch Caritas-Mann Jürgen Lieser fest. Das liege an den schwierigen Rahmenbedingungen, die den Wiederaufbau verzögern: fehlende Regierung, Korruption, ungeklärte Besitzverhältnisse bei Grund und Boden. Für Linda Polman liegt die Ursache für das haitianische Trauerspiel vielmehr darin, dass jede der geschätzten 10.000 Nichtregierungsorganisationen dort ihr eigenes Süppchen koche – wieder einmal.

Erschienen in Publik-Forum 13/2011

 

 

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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