Nicht mit meiner Tochter

Naomi* wurde als Zehnjährige in Kenia beschnitten. Ihrer Tochter möchte sie dieses Schicksal ersparen

Weinen war verboten: Dass Naomi als Kind beschnitten wurde, war für ihre traditionell lebende Familie eine Selbstverständlichkeit. Sie gehört der Volksgruppe der Kisii an, in der Genital-Beschneidungen von Mädchen trotz aller Aufklärungskampagnen verbreitet sind. Heute ist Naomi 26 Jahre alt und selbst Mutter einer Tochter. Wie sie das grausame Ritual als Kind erlebte und wie sie heute darüber denkt, erzählte sie Ulrike Schnellbach.

Protokoll von Ulrike Schnellbach

„Ich lebe seit zwei Jahren in Freiburg, und ich möchte unbedingt in Deutschland bleiben. Vor allem wegen meiner Tochter. Joyce* ist jetzt 16 Monate alt, ein wunderbares Kind. Ich möchte, dass sie unversehrt bleibt, so wie Gott sie geschaffen hat. In Kenia könnte ich mich damit nicht durchsetzen. Meine Familie würde festlegen, wann der Zeitpunkt für Joyce gekommen ist. Ich möchte aber, dass meine Tochter die freie Wahl hat. Ich wünschte, ich wäre damals gefragt worden. Vielleicht hätte ich gesagt: Ich will warten, bis ich größer bin.

Als ich im Januar 2007 als Au-pair nach Deutschland kam, wusste ich noch nicht, dass ich schwanger war. Joyce ist bei einem One-Night-Stand in Nairobi entstanden. Die Schwangerschaft hat alle meine Pläne durcheinander gebracht. Nach dem Jahr als Au-pair wollte ich am Studienkolleg in Heidelberg die Hochschulreife machen und dann Informatik studieren. Aber durch das Kind hat sich vieles verändert.

Ich komme aus einer strengen Familie, wir durften nie kurze Röcke tragen oder zu Partys gehen, meine Eltern sind sehr traditionell. Als ich ihnen sagte, dass ich schwanger war, wollte meine Mutter, dass ich abtreibe. Mein Vater sagte, es sei allein mein Problem. Bis heute fragt mich niemand, wie es uns geht, ob wir gesund sind.

Wenn ich nach Kenia zurückgehen würde, wäre Joyce immer ausgestoßen. Ich würde mein Leben lang kritisiert werden, eine Sünderin. In Kenia bist du als alleinstehende Mutter eine Außenseiterin – bis zum Tod: du wirst wo anders begraben als deine Familie. Ich möchte hier bleiben, damit meine Tochter eine Zukunft hat. Ich möchte ihr mein Schicksal ersparen.

Wir hatten Glück: Wir gingen nicht in den Wald

Ich war zehn Jahre alt, meine Schwester war sechs, als wir zu meiner Oma gingen. Meine Mutter hatte immer gesagt, es wird ein großes Fest, eine Ehre, danach sind wir keine Mädchen mehr, sondern Frauen. In Kenia werden die Mädchen von klein auf darauf vorbereitet, dass das auf sie zukommt. Und es wird ihnen von Anfang an eingeimpft: „Du darfst nicht weinen.“

Viele machen das einfach, weil sie dazugehören wollen. Als Kind weiß man ja nur, dass es schmerzhaft ist, die Folgen kennt man nicht. Sex ist ein Tabu in Kenia, man spricht nicht darüber, das ist ein großer Fehler.

Wir hatten Glück, dass wir keine traditionelle Beschneidung hatten: Wir gingen nicht in den Wald, wo viele Mädchen nacheinander mit derselben Rasierklinge geschnitten werden. Dabei entstehen oft Infektionen, viele verlieren eine Menge Blut. Meine Oma brachte uns ins Krankenhaus. Jedes Mädchen hatte eine eigene Rasierklinge. Es war sehr schmerzhaft, ohne Betäubung. Danach gingen wir gleich zu meiner Oma nach Hause.

Es ist Tradition, dass die Großmutter die Beschneidung begleitet, die Mutter darf nicht dabei sein. Den Vater darf man danach zwei Wochen lang nicht sehen, überhaupt keine Männer und Jungen. Nach den zwei Wochen war ich okay, ich konnte wieder normal gehen. Es gab ein großes Fest für mich und meine Schwester und für die anderen Mädchen, die mit uns beschnitten worden waren.

Ein Teil von mir ist weg. Das hat mich lange sehr unglücklich gemacht

Beschneidung ist in Kenia schon lange verboten, wird aber immer weiter praktiziert. Im Jahr 2005, als das Fernsehen dauernd über das Verbot berichtete, wurde meine Cousine beschnitten, trotz allem. 85 Prozent der Kisii-Frauen, zu denen ich gehöre, sind beschnitten. Allerdings ist die Beschneidung bei den Kisii weniger schlimm als bei den Massai oder den Somalis. Mir wurde nur die Klitoris abgeschnitten, ich wurde nicht zugenäht wie die Massai.

Bei den Somali-Frauen ist es am schlimmsten: Da wird alles weggeschnitten, es bleibt nur ein Loch, und es wird zugenäht. Viele Frauen sterben daran. Viele haben durch die Beschneidung ihr Leben lang schlimme Periodenschmerzen, manche können keine Kinder bekommen. Es könnte also schlimmer sein. Aber ein Teil von mir ist weg. Es hat mich lange sehr unglücklich gemacht, ich komme erst langsam darüber hinweg.

Wenn mich in Kenia jemand fragte, ob ich beschnitten sei, habe ich immer nein gesagt. Denn sonst dachten die anderen – die zu Ethnien gehörten, bei denen man nicht bescheidet –, ich sei irgendwie komisch, als hätte ich keine Gefühle oder so. In meiner eigenen Volksgruppe sagte ich natürlich ja, ich sei schon beschnitten, sonst hätte ich nicht dazugehört. Aber ich wollte nicht darüber sprechen, wie es war. Es war etwas Privates. Das erste Mal, dass ich darüber gesprochen habe, war hier in Deutschland mit meiner Hebamme. Das hat mir wirklich gut getan.

Sex ist mir nicht so wichtig. Reden ist wichtig

Ich war Jungfrau, bis ich 18 war. Irgendwann wollte ich dann wissen, wie es ist. Ich denke, Sex gehört eben zur menschlichen Natur. Sex ist Sex – egal, ich bin nicht so wild darauf. Ich kann keinen Orgasmus haben. Nach dem ersten Mal habe ich sechs Jahre mit keinem Mann geschlafen. Mit dem One-Night-Stand habe ich einen dummen Fehler gemacht. Ich war frei, ich war unterwegs nach Europa, ich war euphorisch. Und ich hatte vielleicht ein bisschen zuviel Alkohol getrunken.

Zurzeit mache ich einen Sprachkurs, bald beginne ich eine Ausbildung. Studieren kann ich leider nicht, dafür fehlt mir das Geld. Eines habe ich in den zwei Jahren hier gelernt: Es geht, solange man nicht von staatlicher Hilfe abhängig ist. Die Ausländerbehörde verlangt, dass ich mich und mein Kind selbst finanziere, sonst kann ich nicht bleiben.

Seit ein paar Monaten habe ich einen Freund, einen Deutschen. Es ist manchmal schwer mit den kulturellen Unterschieden, aber ich bin glücklich. Er liebt meine Tochter und möchte eine eigene Beziehung zu ihr aufbauen. Für mich war entscheidend, dass er sie akzeptiert.

Ja, jetzt habe ich Sex, aber es ist mir nicht so wichtig. Wir reden stundenlang, das ist mir wichtig. Mein Freund sagt, ich sei wunderbar im Bett. Er weiß, dass ich beschnitten bin. Es tut ihm leid, dass mir das geschehen ist. Aber er sagt, ich soll immer das Positive sehen, und er hat Recht.“

*Namen geändert

 

Infobox Genitalverstümmelung

Bei der Genitalverstümmelung wird den Mädchen, meist vor der Pubertät, die Klitoris weggeschnitten, je nach Tradition werden zusätzlich die Schamlippen entfernt und die Scheide weitgehend zugenäht. Der Eingriff ist sehr schmerzhaft und wird häufig unter katastrophalen hygienischen Bedingungen vorgenommen, so dass er zu Infektionen, starkem Blutverlust, sogar zum Tod führen kann. Die Genitalverstümmelung wird traditionell damit begründet, dass nicht beschnittene Mädchen nicht zu verheiraten seien.

Vor allem im westlichen und nordöstlichen Afrika werden Mädchen beschnitten, aber auch anderswo wie im Jemen, im kurdischen Teil des Irak, in Indien, Indonesien und Malaysia – und durch afrikanische Einwanderung zunehmend auch in Europa. Nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Terre des femmes sind weltweit 150 Millionen Frauen beschnitten, täglich kommen etwa 6000 hinzu. In Deutschland leben 20.000 betroffene Frauen, schätzungsweise 4000 Mädchen droht dasselbe Schicksal.

Gegen Genitalverstümmelung wenden sich nicht nur Menschenrechtsorganisationen wie Terre des femmes, NAFGEM (Network Against Female Genital Mutilation) oder die Freiburger Stiftung materra, auch die Weltgesundheitsorganisation und Unicef (mit der prominenten Sonderbotschafterin Waris Dirie) setzen sich für ihre vollständige Abschaffung ein. Projekte zur Aufklärungsarbeit oder Umschulungen von Beschneiderinnen haben bei manchen Volksstämmen Afrikas die Zahl der Beschneidungen bereits stark zurückgehen lassen. In vielen Ländern, darunter Kenia, ist Genitalverstümmelung offiziell verboten, wird aber dessen ungeachtet weiter praktiziert.   

Erschienen in der Badischen Zeitung, 9. 2. 2009 und in Publik-Forum 4 / 2009

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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