Wie in Tausendundeiner Nacht

Storytelling für Journalisten von Marie Lampert und Rolf Wespe

„Storytelling für Journalisten“: geschrieben von Marie Lampert und Rolf Wespe, gelesen im Istanbul-Urlaub, rezensiert von Ulrike Schnellbach – empfehlenswert!

Der Inbegriff von Urlaub: Im Café sitzen und einen spannenden Roman lesen; ausnahmsweise keine Pflichtlektüre, keine Zeitungen, Fachzeitschriften, Sachbücher. Und da sitze ich nun tatsächlich in einem Istanbuler Straßencafé – ringsherum Moscheen, Händler, Musik und das vielstimmige Rufen des Muezzins; ein Platzregen prasselt auf die Sonnenschirme herab, unter denen Urlauber ihre Köpfe über Reiseführer oder Romane (!) beugen – und lese: „Storytelling für Journalisten“. Fachbuch statt Krimi, das könnte die Urlaubslaune verderben. Tut es aber nicht, denn dieses Buch mit seiner Fülle an Tipps und Beispielen und seiner ausgefeilten bildhaften Sprache liest sich beinahe so anregend wie ein Roman. 
Was war das – eine Einleitung? Das würde den Buchautoren, der deutschen Journalistin Marie Lampert und ihrem Schweizer Kollegen Rolf Wespe, aber gar nicht gefallen. Einleitungen, sind sie überzeugt, vertreiben die Leser. Eine Geschichte braucht vielmehr einen Anfang, der fesselt, eine Mitte, die nicht durchhängt, und ein Ende, das nachklingt. Also rasch den ersten Absatz löschen und nach einem Paukenschlag für den spannenden Einstieg suchen? Nicht nötig (hoffe ich zumindest), denn mein Anfang berücksichtigt zumindest zwei Tipps der professionellen Storyteller: Er enthält eine Mini-Geschichte, die sich merken und weitererzählen lässt. Und er knüpft an einer Erfahrung vieler Leserinnen an: der Inbegriff von Urlaub… – „ach ja, das kenne ich“.
Storytelling, damit versuchen gedruckte Medien dem Auflagenschwund entgegenzuwirken. Der englische Fachbegriff klingt trendy, beruht aber auf einem uralten Prinzip: Seit Menschengedenken erzählen Menschen Geschichten, lassen sich in ihren Bann ziehen. In „Tausendundeine Nacht“ entgeht Scheherazade ihrer für den Morgen geplanten Hinrichtung, indem sie ihrem König Geschichten erzählt, die sie am Ende jeder Nacht an einer spannenden Stelle unterbricht. Der Mann will unbedingt die Fortsetzung hören und schiebt die Tötung jedes Mal auf. Nach tausend und einer Nacht hat Scheherazade ihm nebenbei drei Kinder geboren, der König lässt sie am Leben.
Die Suche nach dem vierblättrigen Kleeblatt
Aber taugt das, was für Märchen gilt, auch für journalistische Texte, in denen es doch in erster Linie um Informationsvermittlung geht? Unbedingt: Weil die meisten Menschen sich für Menschen mehr interessieren als für Daten und Fakten, weil sie sich Bilder, auch Metaphern, besser einprägen als abstrakte Sachverhalte, weil sie das Kino im Kopf lieben. Man nehme einen Helden, einen Ort und eine Handlung – dieses Rezept des Aristoteles passt bis heute auch für journalistische Geschichten, und zwar nicht nur für die klassische Reportage. Storytelling funktioniert auch in Nachrichten, Berichten und sogar im Interview, wie die Autoren an erstaunlich einfachen Beispielen zeigen.
Dabei ist Geschichtenerzählen kein Kinderspiel. In den Texten, die hinterher so leichtfüßig daherkommen, steckt eine Menge Arbeit. Denn, so Lampert/Wespe: Das Thema ist noch nicht die Geschichte. Vor dem Schreiben gilt es, wenn man so will, die Hauptdarsteller zu casten, Ort und Zeit der Aufführung zu bestimmen, Bühnenbild und Requisiten zu arrangieren, den Aufbau dramaturgisch zu gestalten. Mit einem Bild der Autoren ausgedrückt: „Manche Menschen laufen über eine Wiese und finden sofort vierblättrige Kleeblätter. Das sind die geborenen Geschichtenfinder. Die meisten von uns sind das nicht. Wir müssen uns bücken, genauer hinschauen, über Gräser streichen, die Stängel von nahem prüfen, einen pflücken, wieder wegwerfen – um dann an anderer Stelle wieder mit der Suche zu beginnen. Manche treten die Vierblättrigen versehentlich um.“
Und wofür die ganze Mühe? Um die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen zu holen und zu halten, indem man Kopf und Herz gleichermaßen anspricht. Die Reden Barack Obamas, der ein großartiger Rhetoriker ist, „make you feel and think at the same time“, so sagt es Bob Dylan. Das ist die Kunst, die es zu lernen, vielleicht auch nur aufzufrischen gilt. Mit diesem Buch ist das eine Freude. Sogar im Urlaub.

Marie Lampert, Rolf Wespe: Storytelling für Journalisten, UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, 2. Auflage 2012, 262 Seiten   

Erschienen im DJV-Blickpunkt 3/2012

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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