„Diesen Erfolg werden sich die Menschen nicht wegnehmen lassen”

Wie geht es weiter nach der Jasminrevolution? Fragen an den Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien, Ralf Melzer

Ralf Melzer Ralf Melzer – Foto: privat

Wie ist das Lebensgefühl in Tunis im Moment?

Nach streckenweise großer Beunruhigung spürt man seit einigen Tagen den Wunsch der Menschen nach Normalisierung. Die meisten Geschäfte haben wieder geöffnet, die Busse fahren wieder, die öffentlichen Einrichtungen haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Auch die Sicherheitslage hat sich beruhigt.

Im Augenblick herrscht ja große Begeisterung über Demokratie, Meinungsfreiheit, überhaupt Freiheit. Was kommt nach der Euphorie?

Mit der Beruhigung der Lage kommt bei den Menschen jetzt erst so langsam an, was hier passiert ist, und damit einhergehend ein Gefühl von Stolz und Freude. In die Euphorie mischen sich aber auch erste, durchaus berechtigte Sorgen: Die Wirtschaft hat ziemlichen Schaden genommen, vor allem muss der Tourismus als eine der wichtigsten Einnahmequellen Tunesiens in diesem Jahr mit erheblichen Einbrüchen rechnen. Wenn es jetzt erstmal wirtschaftlich schlechter und nicht besser wird, besteht die Gefahr, dass die Euphorie in Frust umschlägt. Und dann könnten Akteure auf den Plan treten, die das instrumentalisieren.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Islamisten die Oberhand gewinnen?

Ich schätze die Gefahr als relativ gering ein, weil Tunesien trotz der schwierigen Bedingungen eine relativ lebendige und selbstbewusste Zivilgesellschaft hat. Diese Menschen werden sich nicht so ohne weiteres ihren Erfolg wegnehmen lassen. Sie wollen sich auch das nicht kaputtmachen lassen, was es vorher schon Gutes gab im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich, etwa die weitgehende Gleichstellung von Männern und Frauen. Diese Protestbewegung wurde nicht von Islamisten gesteuert, sondern kam aus dem Volk, und ich glaube nicht, dass es Islamisten gelingen wird, nachträglich auf den Zug aufzuspringen.

Welche Gruppierungen können das entstandene Machtvakuum füllen?

Es gibt eine Opposition, bestehend vor allem aus tendenziell linken, säkularen Parteien und aus Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen. Allerdings ist die Opposition durch jahrelange Gängelei und eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten strukturell und personell schwach. Das Problem ist, dass sich die Oppositionsparteien jetzt schnell in die Lage versetzen müssen, kampagnenfähig zu werden, sich zu professionalisieren, um mit anderen politischen Kräften in einen fairen Wettstreit treten zu können.

Könnte das Militär der Versuchung erliegen, die Macht an sich zu reißen?

Das Militär hat sehr besonnen und zurückhaltend reagiert und dafür gesorgt, dass die außer Kontrolle geratenen ehemaligen Präsidialgardisten nicht die Oberhand gewonnen haben. Es hat in diesen revolutionären Tagen Momente gegeben, in denen es zu einem Militärputsch hätte kommen können, hätte die Armee das gewollt. Es ist nicht dazu gekommen, und umso unwahrscheinlicher ist, dass es jetzt noch dazu kommen wird.

Was wird sich für Ihre Arbeit ändern?

Alles! (lacht) Na gut, fast alles! Vorausgesetzt natürlich, dass sich die Lage weiter stabilisiert und ein erfolgreicher Prozess der politischen Erneuerung beginnt, werden wir viel freier in der Wahl unserer Mittel sein. Die Ziele unserer Arbeit verändern sich aber nicht: die Stärkung der Zivilgesellschaft, die Förderung des euromediterranen Dialogs, die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und mit den Parteien, die der sozialen Demokratie nahe stehen – und die jetzt nicht mehr unbedingt in der Opposition sein werden.

 

Dr. Ralf Melzer, Historiker und Journalist, leitet seit 2009 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien.

 

Interview: Ulrike Schnellbach

Erschienen in Publik-Forum, 2 / 2011

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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