„Uns bleibt nur die Hoffnung“

Doris Wende (47) und ihre Familie haben zwei Jahre lang einen jungen Flüchtling aus Afghanistan beherbergt. Dann wurde sein Asylantrag unerwartet abgelehnt.

Doris Wende
Doris Wende – Foto: Ulrike Schnellbach

Aufgezeichnet von Ulrike Schnellbach

Eigentlich sollte Khadem nur drei Monate bei uns bleiben, so wie die anderen auch. Wir hatten schon etliche Jugendliche aufgenommen, seit unsere eigenen Kinder zehn und zwölf Jahre alt waren. Die Flüchtlinge kamen jeweils für maximal ein Vierteljahr zu uns, bis das Jugendamt entschieden hatte, wie es weitergehen sollte. So war das auch bei Khadem geplant. Aber der war besonders: Mit ihm hat es so gut funktioniert, weil er sehr sozial und engagiert ist und immer sein Bestes gegeben hat. So wie er hatte sich noch kein Kind unserer Familie angeschlossen. Wir wollten ihn darin unterstützen, seinen Integrationswillen umzusetzen. Zwei Jahre und zwei Monate ist er schließlich bei uns geblieben, er war Teil der Familie. Und ist es immer noch, auch wenn er kürzlich ausgezogen ist. Unter ziemlich dramatischen Bedingungen…

Als Khadem kam, war er ein Häufchen Elend. Er konnte kein Wort deutsch, war wie ein verschüchtertes Kind, den Blick immer zum Boden gesenkt. Analphabet war er. Als er die ersten deutschen Worte lernte, war er sehr bemüht, uns zu verstehen. Er zeigte sich dankbar und man merkte, dass er sich als Familienmitglied verstehen wollte. Bei uns hat er Radfahren und Schwimmen gelernt, er war mit im Urlaub, beim Wandern auf einer Hütte. Wie wir alle hat er Aufgaben im Haushalt übernommen und sie immer sehr gewissenhaft erledigt.

Er hat das Interesse genossen, das wir ihm entgegengebracht haben. Ich glaube, wir waren ein familiäres Beispiel für ihn, anders als seine eigene Familie in Afghanistan. Dort ist er sehr autoritär aufgewachsen, hat oft Schläge bekommen, sagt er, vor allem von seinem Vater. Das war wohl auch der Grund, warum er Männern nicht traute und es eine Weile dauerte, bis er lernte, auch mit meinem Mann zu reden. Vorher hat er sich sehr an mich geklammert, das war mir manchmal zu eng. Aber wir haben das gut hinbekommen, mein Mann und ich. Wir haben allerdings auch gute Voraussetzungen: Andreas ist Psychologe, ich bin Pädagogin in der Integrationsarbeit. Alles in allem hat es nie größere Probleme mit Khadem gegeben, auch nicht zwischen ihm und unseren Kindern.

Doch dann geschah der Mord

Irgendwann wurden unsere Wohnverhältnisse aber zu eng mit unseren großen Kindern, die jetzt 16 und 18 sind. Deshalb begannen wir eine Wohnung für Khadem zu suchen. Er ist inzwischen 19, macht gerade seinen Hauptschulabschluss und hat ab August eine Lehrstelle als Fliesenleger. Zunächst fanden wirr nur eine Wohngruppe in Breisach, 30 Kilometer entfernt. Da sagte mein Sohn, dass er sein Zimmer so lange mit Khadem teilen würde, bis sich etwas in Freiburg ergibt. Das fand ich schon ziemlich erstaunlich. So blieb Khadem nochmal zwei Monate bei uns, bis Freunde uns eine Einzimmerwohnung bei einem alten Ehepaar vermittelten.

Doch dann geschah der Mord: In Freiburg wurde eine Studentin getötet und ein Flüchtling aus Afghanistan ist tatverdächtig. Einer, der wie Khadem bei einer Pflegefamilie gewohnt hat. Mein erster Gedanke war: Das kann schwierig werden – und es wurde schwierig. Die Vermieter wurden misstrauisch. Und auch mit uns hat das etwas gemacht. Das war schon ein Erschrecken: Es hätte auch uns treffen können. Im Grunde weiß man ja nichts über diesen Menschen, man kann ja nicht reinschauen.

Für Khadem selbst war der Mord gar nicht so ein Thema. Er identifiziert sich nicht mit Afghanistan, er ist ja schon so lange weg. Als Zwölfjähriger floh er vor Übergriffen der Taliban – seine Familie gehört der Minderheit der Hazara an. Die Eltern schickten ihn zu seinem Bruder in den Iran, wo er zwei Jahre lang auf dem Bau arbeitete, illegal. Das ging auf die Dauer nicht. Also floh er weiter nach Europa, alleine.

Alles gegeben, um hierzubleiben

Mit großer Mühe konnten wir die Vermieter dann doch von Khadems Qualitäten überzeugen und er durfte einziehen. Wir haben solches Glück gehabt, Leute zu finden, die so offen sind und das Wagnis eingehen. Aber dann der nächste Schlag: Ausgerechnet am Tag des Umzugs kam der Asyl-Bescheid. Man hatte uns immer gesagt, Khadem würde anerkannt werden. Und jetzt: abgelehnt! Innerhalb von 30 Tagen sollte er Deutschland verlassen. Das war für uns alle sehr bitter. Für Khadem natürlich besonders. Er hatte Angst, schlief nicht mehr, spürte seinen Körper nicht mehr, hatte Selbstmordgedanken. Er ist seit zweieinhalb Jahren in Deutschland, für einen jungen Menschen ist das eine lange Zeit. Er kann sich gar nicht mehr vorstellen, in Afghanistan zu leben. Und er hat alles dafür gegeben, sich hier zu integrieren, und auch wir haben alles dafür getan, ihm eine Perspektive zu geben. Aber für das Asylverfahren nützt das gar nichts. Wir sind in einer Schocksituation: Wenn er gehen muss, können wir nichts dagegen machen. Der Anwalt hat Klage eingereicht. Uns bleibt nur die Hoffnung.

Erschienen in Publik-Forum 15/2017

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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