Wegsehen hilft nicht

Nach den jüngsten Schiffsunglücken vor Lampedusa muss die europäische Flüchtlingspolitik endlich umsteuern. Ein Kurswechsel wäre gar nicht so schwierig – wenn der politische Wille gegeben wäre. 

Von Ulrike Schnellbach

Als hätte er es geahnt: Seine erste Reise führte Papst Franziskus vergangenen Juli in die Flüchtlingslager von Lampedusa. Sein Anliegen: mehr Solidarität mit den Ärmsten dieser Welt, mehr Verantwortungsgefühl, mehr Gerechtigkeit. Angesichts der jüngsten Schiffsunglücke mit Hunderten Toten vor der italienischen Insel hat die Diskussion um die europäische Flüchtlingspolitik Fahrt aufgenommen. „Das Wegsehen hat ein Ende“, konstatiert Karl Kopp von der Hilfsorganisation Pro Asyl, die seit Jahren das massenhafte Sterben an den EU-Außengrenzen anprangert. Dieser Tage  ist Kopp ein gefragter Interviewpartner und stellt fest: „Nirgendwo sonst in Europa wird so qualifiziert und kritisch über dieses Thema diskutiert, wie in den deutschen Medien.“ Erzbischof Robert Zollitsch spricht von einem „Weckruf“ für die Politik. Wie viele andere fordert auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), einen Kurswechsel: „Europa muss endlich anerkennen, dass es ein Einwanderungskontinent ist. Deshalb brauchen wir ein legales Einwanderungssystem.“

Eine Agenda gegen das Sterben an den EU-Außengrenzen

Es ist offensichtlich: Wie bisher kann es nicht weitergehen. Europas Abschottung hat schon so viele Menschen das Leben gekostet, nicht nur im Mittelmeer. Die immer rigidere Grenzüberwachung hat nicht zu einer Abnahme der Flüchtlingsströme geführt, sondern zu immer riskanteren Fluchtrouten. Migrationsforscher wissen längst: Kein Grenzschutz der Welt hält Menschen davon ab, vor Kriegen oder Hungersnöten zu fliehen. So verhindern auch die aufwändigen Anlagen an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko nicht, dass Menschen aus dem Süden ihr Leben riskieren, um im Norden ein besseres zu suchen. Aus dieser Erkenntnis die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen wäre gar nicht so schwierig.

Erstens: Anstatt sich vor Flüchtlingen zu schützen, muss Europa endlich die Flüchtlinge schützen. Das heißt: Menschen in Seenot retten, anstatt tatenlos an Flüchtlingsbooten vorbeizufahren oder sie zurückzudrängen. Wer verhindern will, dass Menschen sich kriminellen Schleppern anvertrauen, muss darüber hinaus Wege für eine legale Einreise öffnen. Also zweitens: In den Herkunftsländern humanitäre Visa ausstellen, die es Menschen erlauben, nach Europa zu kommen und hier ihre Fluchtgründe vorzutragen. Drittens: Das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen unterstützen. Damit siedelt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR jährlich etwa 80.000 besonders schutzbedürftige Vertriebene um, 60.000 davon nehmen die USA auf. Europa hat sich an diesem Programm bislang nur mit minimalen Kontingenten beteiligt.

Solange wir den Süden ausbeuten, müssen wir mit der Armutsmigration leben

Wer grundsätzlicher denkt, sieht die Welt als globales Dorf. Da sollte es selbstverständlich sein, einander zu helfen und den Wohlstand zu teilen. Das Gegenteil ist Realität: Seit Jahrhunderten beutet der globale Norden den Süden nach Kräften aus; selbst die Entwicklungshilfe dient oft in erster Linie den Wirtschaftsinteressen der Geberländer. Bis heute trägt Europa dazu bei, dass Menschen fliehen müssen: durch Ausbeutung der Rohstoffe und weitgehend ungehemmte Rüstungsexporte; durch ungerechte Handelskonditionen und eine protektionistische Agrarpolitik; durch die Zerstörung des Klimas, die ganze Landstriche in Afrika unbewohnbar macht. „Solange wir Europäer die Ursache für die Migrationsströme sind, müssen wir auch Lösungen bieten“, verlangt Fanny Dethloff, die Flüchtlingsbeauftragte der evangelischen Nordkirche.

Michael Klein, Professor für Entwicklungspolitik an der Frankfurt School of Finance and Management, warnt dagegen: „Unkontrollierte Einwanderung in reiche Länder könnte die soziale Basis des Fortschritts unterminieren“ – und zwar sowohl für diejenigen, die das Glück haben, in wohlhabenden Ländern geboren zu sein, als letztlich auch für Migranten. „Wenn man die Grenzen der EU total aufmacht, werden sich potentiell Millionen von Migranten auf den Weg machen“, schreibt Klein auf Zeit online. Migrationsforscher bezweifeln das. Denn die meisten Flüchtlinge bleiben in ihren Heimatregionen, um etwa nach einem Krieg rasch zurückkehren zu können. „Nicht jeder will nach Europa“, betont Stefan Rother, Sprecher des Arbeitskreises Migrationspolitik der deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft.

Europa braucht Zuwanderung – und sollte die Flüchtlinge als Potential sehen

Eine Neuorientierung der europäischen Einwanderungspolitik ist nicht nur aus humanitären Gründen geboten. Europa ist ein rasant alternder Kontinent, der schon aus Selbsterhaltungstrieb auf Zuwanderung angewiesen ist. Doch bislang werden die beiden Stränge dieser Debatte zu wenig zusammengebracht. Auf der einen Seite wirbt Europa in aller Welt um Fachkräfte, braucht aber auch Menschen mit geringen Qualifikationen etwa für die Gastronomie oder die Altenpflege. Auf der anderen Seite werden Asylbewerber, mit welchen Fähigkeiten sie auch zu uns kommen, durch Arbeitsverbote in die sozialen Sicherungssysteme gezwungen. Beide Stränge zusammen gedacht, würden Flüchtlinge – jedenfalls diejenigen, die nicht schwer krank oder traumatisiert sind – von einer möglichen Belastung zu einem enormen Potential.

Jenseits der Kosten-Nutzen-Analyse kann man es auch sehen wie Karl Kopp von Pro Asyl: „Es bedeutet ja auch einen Zugewinn an Lebensqualität, wenn man nicht teilhat an einem Staatenbund, der massenhaft die Menschenrechte verletzt.“

 

Migration in Zahlen

Weltweit sind dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge etwa 45 Millionen Menschen auf der Flucht, die meisten innerhalb ihrer eigenen Länder. Gut 15 Millionen sind völkerrechtlich anerkannte Flüchtlinge. 80 Prozent von ihnen fliehen in Nachbarstaaten, weniger als zehn Prozent kommen nach Europa. So haben von den fast zwei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen bislang nur etwa 50.000 in Europa Schutz gesucht; allein der kleine Libanon hat 700.000 aufgenommen, Jordanien mehr als 500.000.
Zwischen 19.000 und 25.000 Flüchtlinge sind seit 1988 an Europas Außengrenzen umgekommen, schätzen Menschenrechtsorganisationen. Für die gemeinsame Grenzschutzagentur Frontex geben die EU-Staaten jährlich 85 Millionen Euro aus. Für den jetzt beschlossenen Aufbau des Überwachungssystem Eurosur sind zusätzlich 340 Millionen Euro eingeplant.

Bis zum Jahr 2025 fehlen der deutschen Wirtschaft nach Expertenschätzungen sechs Millionen Arbeitskräfte.

 

 

Erschienen in Publik-Forum 20/2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

PDF-Version (Drücken Sie die rechte Maustaste und klicken Sie auf "Ziel speichern unter")