Wenn das Wünschen schwierig wird

Vater, Mutter, vier Kinder – in zwei Zimmern. Das bringt Stress mit sich, aber beklagen will sich Familie Khudeida nicht

Von Ulrike Schnellbach

Familie Khudeira
Um ehrliche Antworten bemüht: Vater und Mutter Khudeida mit
ihren älteren Kindern. Die beiden jüngeren gehen zur Schule

Kheder Khudeida Hassan gehört nicht zu den Flüchtlingen, die ihre Geschichte nur unter einem Pseudonym erzählen möchten. „Es gibt nichts zu schämen, ich bin nicht schuld an der Situation“, sagt der 42-Jährige. Vor anderthalb Jahren floh der Kurde jesidischen Glaubens aus seiner Heimat im Nordirak „vor dem Krieg, vor der politischen Situation, vor brutalen Übergriffen“, wie er mithilfe einer Übersetzerin berichtet. Mehrere Anschläge habe er miterlebt, Freunde seien in ihren Autos erschossen, andere auf offener Straße geköpft worden. In seinem Dorf in der Nähe von Mossul betrieb Khudeida ein bisschen Landwirtschaft und einen Laden, in dem er auch Alkohol verkaufte. Deshalb sei das Geschäft von Extremisten niedergebrannt worden. 

Anders als die meisten seiner Landsleute hatte Kheder Khudeida Glück im Unglück: In Deutschland wurde er als Flüchtling anerkannt und bekam eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre. Was ein zweites Glück mit sich brachte: Vor einem halben Jahr konnte er seine Familie nachholen, seine Frau Sabriah und die vier Kinder im Alter von elf bis achtzehn Jahren. Zu sechst wohnen sie nun in einem Freiburger Flüchtlingswohnheim – in Frieden und Sicherheit, wie sie dankbar betonen, aber unter äußerst schwierigen Umständen. Vier mehr oder weniger pubertierende Jugendliche mit ihren Eltern in zwei Zimmern, Vater und Mutter arbeitslos, auch die 16-jährige Tochter und der 18-jährige Sohn ohne Beschäftigung. Immerhin, die jüngeren Geschwister gehen zur Schule.

Kheder Khudeida öffnet die Tür zu seinem Wohnzimmer und schaltet den Fernseher aus, vor dem die beiden Jugendlichen sitzen. Das Leben spielt sich in diesen 16 Quadratmetern ab: picobello geputzt und aufgeräumt, Sofas an drei Wänden, zwei Couchtische, in der Ecke ein Kleiderständer als Garderobe, ein Schrank, auf dem das Bettzeug der Eltern in Tüten weggepackt liegt. Mittags breiten sie auf dem Teppich eine Plastikdecke aus, erzählt Khudeida, und essen gemeinsam auf dem Boden. Für die Nacht werden die Sofas zu Betten umgebaut. Das Schlafzimmer der Kinder nebenan ist winzig, es passen gerade die zwei metallenen Stockbetten über Eck und ein Schrank hinein.

Ein Zimmer steht leer, es ist abgeschlossen

Vater Khudeida zeigt auch das fensterlose Bad und die Küche mit den zwei defekten Elektroherden, dem verfleckten grauen Linoleumboden und der Spüle, die nicht mehr sauber zu bekommen ist, auch dafür hat er sich nicht zu schämen. Das Flüchtlingswohnheim ist seit einem Vierteljahrhundert Durchgangsstation für so viele Menschen, kein Wunder, dass vor allem die Gemeinschaftsräume abgewohnt aussehen. Die Mutter würde gerne Brot backen, aber der Backofen funktioniert nicht.

Das größte Unbehagen bereitet den Khudeidas die Tatsache, dass sie die Küche mit zwei jungen Landsleuten teilen, die ein Zimmer auf demselben Stockwerk bewohnen. Nicht dass diese Männer unfreundlich wären oder Unrat hinterlassen würden – aber wie sollen die Eltern ihre 16-jährige Tochter beschützen? In ihrer Kultur sei das einfach nicht üblich, erklärt die Übersetzerin, dass alleinstehende Männer und junge Frauen einander unbeobachtet begegnen. Also besucht die Mutter ihren Integrationskurs am Nachmittag, der Vater lernt abends Deutsch, so dass immer jemand bei den Kindern ist. Auch wenn Behördengänge oder Arztbesuche anstehen, lassen die Eltern ihre Töchter nie allein, im Zweifel müssen sie eben mitkommen.

Auf diesem Flur gibt es noch ein weiteres Zimmer. Es steht leer, aber es ist abgeschlossen. 4,5 Quadratmeter Wohnraum stehen einem Flüchtling in Deutschland laut Gesetz zu, und die sind im Fall der Familie Khudeida ausgeschöpft. Möglicherweise könnte man einen Antrag aus gesundheitlichen Gründen stellen, sagt der Sozialarbeiter, der die Familie betreut.

Die elfjährige Tochter leidet unter undefinierbaren Bauchschmerzen, vor allem nachts, dann kann sie nicht schlafen und flüchtet sich zu den Eltern. Ein zusätzliches Zimmer wäre da hilfreich. Auch um mal tagsüber ein paar Stunden Schlaf nachzuholen, wenn schon sonst nichts zu tun ist. Wo soll man sich hinlegen, wenn alle da sind, die einen mit Nichtstun beschäftigt und die anderen mit Hausaufgaben? Auch der 18-jährige Zubeir meldet Bedarf an, in seinem Alter findet er es unerträglich, mit seinen Schwestern ein Schlafzimmer zu teilen.

„Es gibt Streit, sogar beim Schlafen“

Mutter Sabriah möchte etwas anbieten, sie verschwindet in der Küche und kommt mit zwei Gläsern Tee zurück für die Journalistin und die Übersetzerin. Vater, Mutter und die beiden älteren Kinder, die an diesem Vormittag zuhause sind, trinken nichts. Sie konzentrieren sich auf die Fragen und bemühen sich, alle zufriedenstellend zu beantworten.

Die Frage nach den größten Problemen ist einfach: die Enge, die dadurch entstehenden Spannungen. „Es gibt Streit, sogar beim Schlafen“, erzählen die Kinder. „Wenn sich einer in den quietschenden Betten bewegt, wachen die anderen auf.“ Unmöglich sei es in diesen beengten Verhältnissen auch, Freunde einzuladen, sagt der Vater, der in Deutschland schon ein paar Bekanntschaften geschlossen hat.

Vor allem aber setzt ihm die Arbeitslosigkeit zu. Im Sommer hatte er wenigstens einen Putzjob, 20 Stunden im Monat, dafür bekam er 160 Euro. Jetzt sucht er wieder, aber mit seinem wenigen Deutsch ist es fast aussichtslos, deshalb bemühen er und seine Frau sich, die Sprache schnell zu lernen. Die 43-jährige Sabriah ist ausgebildete Krankenschwester, aber seit sie Mutter ist, hat sie nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet. „Mit Arbeit wäre es einfacher und schöner“, sagt Kheder Khudeida.

Der Wunsch der Mutter: „Ein eigenes Zuhause, nicht groß, kein Luxus“

Die Frage nach dem größten Wunsch bereitet sichtlich Schwierigkeiten. Sie wird auf Arabisch diskutiert, die Geschwister schauen verlegen zu Boden, die Mutter lächelt höflich, nur der Vater gibt die schlichte Antwort: Arbeit. Und sonst? Worauf  hoffen sie? Betretenes Schweigen. Offenbar wird das Wünschen schwierig, wenn es an allem fehlt und man gleichzeitig so dankbar ist, dass man zumindest am Leben ist und in Sicherheit.

Die 16-jährige Zahera lässt sich entlocken, dass sie gerne lesen und schreiben lernen würde. Als einziges der Kinder hat sie nie eine Schule besucht, für Mädchen sei das in ihrer Kultur nicht üblich, erklären die Eltern entschuldigend. Da haben die jüngeren Schwestern mehr Glück, dass sie jetzt in Deutschland und noch schulpflichtig sind. Auch der 18-jährige Zubeir nennt als größten Wunsch: lernen.

Die Mutter hätte gerne „ein eigenes Zuhause, nicht groß, kein Luxus, aber allein für die Familie“. „Mein Wunsch ist, dass die Familie sich wohlfühlt“, bringt Vater Khudeida schließlich hervor. Obwohl er dabei freundlich lächelt, klingt es irgendwie traurig.   

Erschienen in Publik-Forum 4 / 2010 und in der Badischen Zeitung

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin
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