Wenn ich vier Hände hätte…

Der Alltag einer Altenpflegerin: Zeitdruck und der Anspruch, trotzdem liebevoll mit den Bewohnern umzugehen

Von Ulrike Schnellbach

Vor dem Fenster tanzen zwei Schmetterlinge fröhlich über den Geranienkästen. Aus dem Garten dringt leises Vogelgezwitscher herein. Frau K. scheint nichts davon wahrzunehmen. Zerbrechlich liegt sie in ihrem Bett in der Ecke des halbdunklen Raumes. Parkinson und Demenz, erklärt Schwester Marlene. Sie beugt sich über die alte Frau, „Ich habe jemanden mitgebracht, Frau K.“ Die Frau schaut mit leeren Augen, sie spricht nicht. Behutsam wäscht Schwester Marlene ihr Po und Rücken, „oh – oh – oh“ kommt es angstvoll aus Frau K.’s Mund.

Die Schwester spricht beruhigend auf sie ein,  „Ja, ich weiß, ganz vorsichtig, ich halte Sie fest, Frau K.“. Sie cremt Rücken und Beine ein, setzt Frau K. auf den Toilettenstuhl, schiebt sie ins Bad vor den Spiegel, Zähneputzen, Kämmen, Gesicht waschen, alleine kann Frau K. gar nichts mehr. Dann den Toiletteneimer säubern, das Bett machen, Frau K. anziehen, in den Rollstuhl setzen, und immer gut zureden – eine gute halbe Stunde dauert das alles zusammen. „Die Zeit brauche ich, und die Zeit habe ich auch“, sagt Schwester Marlene bestimmt.

Es ist später Vormittag im Müllheimer Elisabethenheim, die ruhige Phase der Frühschicht. Schwester Marlene ist seit viertel nach sechs im Einsatz, bis acht Uhr hat sie sieben Bewohnerinnen beim Waschen und Anziehen geholfen, einer Bettlägerigen Medizin und Sondenkost verabreicht. Sie hat die Tabletts fürs Frühstück gerichtet, „alles wunschgemäß“, wie sie sagt. Die 14 Bewohnerinnen und ein Bewohner auf Station Birke, die Schwester Marlene leitet, frühstücken fast alle im Speiseraum. Danach ist „Toilettentraining“ angesagt, erst dann haben die Pflegerinnen selbst eine Frühstückspause. Anschließend hat Schwester Marlene noch zwei Bewohnerinnen geduscht und eben Frau K. versorgt.

„Ich mache hier nicht nur meinen Job“

Eine Menge Arbeit, aber Hektik lässt die 57-jährige Pflegerin nicht aufkommen. „Ich bin ein ruhiger Mensch“, sagt sie, und: „Wir schauen, dass die Bewohner gut versorgt sind, ob eine Leistung nun bei der Pflegestufe vorgesehen ist oder nicht.“ Es ist zum Beispiel nicht vorgesehen, dass Menschen im Rollstuhl in den Garten geschoben werden, damit sie in der Sonne sitzen können. Im Elisabethenheim geschieht das trotzdem. „Ich mache hier nicht nur meinen Job“, sagt Schwester Marlene mit einem herausfordernden Blick durch ihre randlose Brille. „Ich bin gerne hier.“

Das ist ganz im Sinne von Thomas Bader und Holger Karg. Seit zweieinhalb Jahren leiten sie das evangelische Elisabethenheim mit 127 Pflegeplätzen und etwa 70 Pflegerinnen und Pflegern, die sich 45 Vollzeitstellen teilen. „Unser Fokus liegt auf den Bewohnern“, sagt Bader, und dass die Bewohner eben die Pflege bekommen, die sie brauchen. „Wir haben einen diakonischen Auftrag.“

Das Problem dabei: Betreuungsleistungen wie Ansprache oder Handhalten werden von der Pflegeversicherung nicht bezahlt. In vielen Heimen ist deshalb dafür kaum Zeit, die Pflegerinnen hasten über die Gänge und schaffen gerade das Notwendigste. „Satt-und-sauber-Pflege“ heißt das im Fachjargon, und auch Bader und Karg kennen das: „In Urlaubszeiten schaffen wir kaum mehr.“

„Unser Ziel ist eine schwarze Null“

Aber anders als private Einrichtungen ist das Elisabethenheim nicht auf Gewinn ausgerichtet. Alles, was eingenommen wird, wird für die Pflege und die Instandhaltung des Hauses ausgegeben. „Unser Ziel ist eine schwarze Null“, sagt Bader. „Und eine zukunftsfähige Firma mit hervorragender Qualität.“ Gute Organisation der Arbeitsabläufe ist ein Rezept, daran arbeiten die Vorstände kontinuierlich. Außerdem hilft das ehrenamtliche Engagement Außenstehender.

In erster Linie sind es aber die Pflegerinnen, die die Qualität im Elisabethenheim sichern. Dass die Bewohner am Singkreis oder Spielenachmittag teilnehmen können, Gedächtnistraining machen und zum Gottesdienst gebracht werden – all das ist nur mit überdurchschnittlichem Einsatz des Personals zu gewährleisten. „Wir haben sehr engagierte Mitarbeiter“, sagt Holger Karg, „und ganz klar: Es wird nicht jede Minute aufgeschrieben“.

Schwester Marlene sagt es so: „Ich schaue jeden Tag, dass ich mit ruhigem Gewissen hier rausgehe.“ Dafür bleibt sie auch mal eine Stunde länger. Es kommt sogar vor, dass sie an ihrem freien Sonntag auf Station Birke mit den Bewohnerinnen Apfelkuchen backt.

Supervision und Fortbildung als Pflege fürs Personal

Natürlich gibt es Tage, da könnte sie vier Hände gebrauchen. Und eine Kollegin mehr wünscht sie sich, wenn sie über dem Dienstplan sitzt und nicht weiß, wie sie das  Wochenende abdecken soll. Aber in die allgemeine Klage über den Pflegenotstand mag die Stationsleiterin nicht einstimmen. „Wir leisten sehr viel, und dafür ist die Bezahlung auch nicht gerecht“, stellt sie nüchtern fest. „Aber wir kriegen auch viel zurück: Dankbarkeit und die Geschichten der Bewohner. Aus ihrer Lebenserfahrung lernen wir.“

Eine Bewohnerin sagt: „Ich wundere mich, wie die Pflegerinnen all die Aufgaben bewältigen. Das ist ein schwerer Beruf, da muss man eine besondere Gabe haben. Die Leute hier machen das alles mit Liebe und Humor.“

Die Vorstände legen Wert darauf, auch das Personal zu „pflegen“: Supervision und Fortbildung sind Pflicht, zusätzlich gibt es für die Mitarbeiter Angebote wie den Nordic-Walking-Treff – an dem auch Bader und Karg teilnehmen. „Wir leben hier etwas vor“, sagt Thomas Bader, „wir nehmen die Mitarbeiter ernst und nehmen uns Zeit für sie.“ Die Personalfluktuation – ein Riesenproblem in vielen Pflegeheimen – ist im Elisabethenheim minimal. Der Krankenstand ist dennoch, wie überall in der Altenpflege, überdurchschnittlich hoch. Denn dass die Arbeit körperlich wie psychisch sehr belastend ist, daran ist nicht zu deuteln.

Würdiges Sterben – ein wichtiges Thema im Heim

Und sie wird immer schwieriger. Die Menschen kommen heute später ins Heim, so dass sie dann meist schwer beeinträchtigt sind. Viele leiden an Demenz, eine ganz besondere Anforderung an die Pflege – auch das wird von der Pflegeversicherung immer noch nicht abgegolten. Und immer mehr Alte werden direkt aus der Klinik ins Heim gebracht – manchmal, so die Kritik, deutlich zu früh – und sterben nach kurzer Zeit.

„Das Heim wird zum Hospiz“, stellt Holger Karg fest. Würdiges Sterben ist deshalb ein wichtiges Thema. Schwester Marlene erzählt, dass sie bei Sterbenden am Bett sitzt und ihre Hand hält, auch dafür muss die Zeit sein. In ihren Unterlagen bewahrt sie einen Brief von Angehörigen auf, die sich dafür bedanken, wie liebevoll eine Bewohnerin bis zum Schluss begleitet worden sei. „Da freut man sich dann“, sagt Schwester Marlene.

Es ist viertel nach elf, bis zwölf ist nun Zeit für die Dokumentation. Minutiös muss sie ihre Arbeit in große Tabellen eintragen, ein Kästchen für jedes Haarekämmen, jedes Getränk, jedes Umlagern. „Papier vor Patient“ fällt ihr dazu ein, noch so ein kritisches Schlagwort. „Aber bei mir kommt das nicht vor“, sagt Schwester Marlene.

Statt über den Listen zu sitzen, bespricht sie sich mit einer Kollegin und beruhigt die Frau eines Alzheimer-Patienten, der heute noch gar nicht aufgewacht ist. Dann ist es schon Zeit fürs Mittagessen, Schwester Marlene muss die Teller reichen und Frau K. füttern. Für die Dokumentation wird sie nach Dienstschluss wohl wieder etwas länger bleiben.

 

Erschienen in der Badischen Zeitung, Juli 2007

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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